Privatopia
Liegt die Zukunft im Privaten?
Alternativen, Veränderung und Privatopias
Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es wäre, anders zu leben als so wie Sie es jetzt in diesem Moment tun? Über eine Veränderung, egal wie groß sie auch sein mag, nachgedacht?
Wenn ja, dann wären Sie nicht allein. Heutzutage gibt es viele neue Trends im Bereich des eigenen Lebensstils, des Zusammenlebens mit anderen oder der Wohnform. Zum Beispiel ziehen Menschen in Mehrgenerationenhäuser, um sich gegenseitig besser unterstützen zu können. Oder haben Sie von Menschen gehört, die sich zusammenfinden, um grüner und nachhaltiger zu leben? Vielleicht kennen Sie auch jemanden, der minimalistischer leben möchte und dafür seine große Wohnung gegen ein Tiny House eingetauscht hat. Diese Trends und Strömungen sind nicht verwunderlich, denn Veränderungen im Zusammenleben der Menschen gibt es seit jeher und auch die Sehnsucht nach einer besseren Zukunft oder dem perfekten Leben in der Gemeinschaft ist ein ständiger Begleiter der Menschheit.
In diesem Beitrag befassen wir uns mit der Suche nach Veränderung und Verbesserung verbunden mit dem Rückzug in ein privates Leben, basierend auf einer zunehmenden Privatisierung und einem größeren Vertrauen in Institutionen, welche ausschließlich den Marktgesetzen folgen. Betrachten Sie mit uns die Entstehung, die Kritikpunkte und die Gründe für ein Leben in einer Privatopia.
Es gibt Menschen wie Ebenezer Howard, der nicht nur für sich etwas verändern wollte, sondern eine Idee entwickelte, welche allen Menschen eine bessere Möglichkeit zu leben bieten sollte. Seine Vorstellung war die einer Gartenstadt. Eine gut geplante und strukturierte Stadt mit einem neuen wirtschaftlichen und politischen System, welche die Vorteile von Stadt- und Landleben verbinden und die Nachteile ausschließen sollte. Sein Wunsch war, dass das Gemeinwohl und das Gemeinschaftswesen die Basis seiner Idee bildeten. Der Gedanke der Gartenstadt hatte und hat auch bis heute Erfolg und konnte in einigen Teilen umgesetzt werden.
In den USA veränderte sich Mitte des 20. Jahrhunderts ebenfalls etwas in der Wohn- und Lebensform vieler Amerikaner. Im Mittelpunkt dieser Veränderung standen der Privatismus und eine zunehmende Privatisierung. Durch große Bauunternehmen entstand eine neue Wohnform, bekannt als „Common Interest Developments“ (CIDs), was als „Wohnsiedlungen von gemeinsamem Interesse“ übersetzt werden kann und die von einer explosionsartigen Verbreitung geprägt war. Bewohner der Einheiten teilen sich gemeinsam den Besitz von Immobilien und an allgemeinen Flächen wie Straßen oder Parks und es werden verschiedene Dienstleistungen wie ein Sicherheitsdienst oder die Müllabfuhr angeboten. Allerdings wird eine Person durch den Erwerb ihres neuen Eigenheims Mitglied einer Form privater Regierung, welche als „Homeowner Association“ (dt. Eigentümerverband) bekannt ist, und muss sich an einige vom Gründer der CID vorgegebene Regeln und Beschränkungen, die „Covenants, Conditions, and Restrictions“ (CC&Rs) halten.
Der Professor für Politikwissenschaften, Evan McKenzie, befasst sich eingehend mit dieser neuen Wohnform in den USA, betrachtet diese aus verschiedenen Blickwinkeln und prägte den Begriff Privatopia, welchen er wie folgt beschreibt:
„Our garden cities are a hybrid of Howard‘s utopian ideas and American privatism, and I use the term privatopia to capture the two concepts.“
– McKenzie, E. 1994:2
Regeln, Macht und Selbstsegregation
Doch kann der Rückzug ins Private als Utopie angesehen werden? Stellen Privatopias wirklich eine Verbesserung der Gemeinschaft da? Und sind eine weitere Entstehung und Verbreitung dieser Wohn- und Lebensform erstrebenswert?
Sie erinnern sich sicher noch an die Regeln während des Corona Lockdowns. Nur eine begrenzte Zahl an Besuchern eines Haushalts. Keine Besuche mehr in beispielsweise Restaurants, Kinos oder Museen. Ausgangssperre ab 21 Uhr und arbeiten im Homeoffice. Diese Regeln haben uns teils schwer eingeschränkt und in unserem Zusammenleben und in der Gesellschaft Spuren hinterlassen. Daher werden die Regeln und Beschränkungen, welche beim Kauf eines Wohneigentums in einer Privatopia unterzeichnet werden müssen, kritisch betrachtet. Die Regeln in Privatopias werden vom Gründer entworfen, von dem Vorstand des Eigentümerverbands kontrolliert und müssen von dem Bewohner eingehalten werden. So können die Höhe des Rasens und die Farbe der Vorhänge an den Fenstern fest vorgeschrieben werden und bei einem Verstoß der Regeln kann dies zu Mahnungen, Strafen und anderen Konsequenzen führen. Auch wenn die Bewohner die Regeln unterzeichnen und diesen somit “freiwillig” zustimmen, kommt es trotz allem zu regelmäßigen Konflikten zwischen den Bewohnern und dem Vorstand des Eigentümerverbands. Dies kann unter anderem durch den Eingriff in die Freiheiten der Menschen und die deutliche Reduzierung an Mitbestimmung erklärt werden. Einige wichtige Grundgedanken der Demokratie lassen sich in Privatopias nicht mehr erkennen. Kann also unter der Kontrolle und Macht des Gründers einer CID und des Eigentümerverbands ein gemeinschaftliches Zusammenleben entstehen? Evan McKenzie stellt die utopischen Gedanken verknüpft mit dem Privatismus als Grundlage für eine Gemeinschaft infrage:
„At a deeper lever, the privatistic utopian vision of CIDs appears fundamentally flawed and self-contradictory. This version of utopia, like so many others, reflects what Manuel and Manuel might call an ,"over-valued idea"’- that privatism is the ultimate basis of community and the only cure for the perceived evils of modern cities. “
- McKenzie, E. 1994: 25
Der Rückzug in ein privates Leben kann auch weitere Auswirkungen auf die Bewohner haben. Zum einen sind die Menschen ausgegrenzt von der äußeren Welt und leben in einer Blase unter gleichgesinnten Menschen. Auch von Selbstsegregation ist hier die Rede. So kann gesagt werden, dass die Menschen in einem Art Tunnelblick leben. Ihr Denken ist dabei durch das abgegrenzte Leben eingeschränkt. Dazu kommt der geringe soziale Kontakt zu anderen Menschen, welche abseits von den Privatopias leben. Verstärkt wird dies durch Regeln, die den Kontakt zur Außenwelt noch weiter einschränken, so dürfen beispielsweise die Bewohner von der Stadt Sun City nur an 30 Tagen im Jahr ihre Familie und Freunde zu Besuch empfangen.
Dies sind nur einige Punkte, welche das Leben in Privatopias vermutlich auf den ersten Blick nicht sehr erstrebenswert aussehen lassen. Doch trotz allem verbreiten sich Privatopias, in Form von CIDs, als Gated Communities und teils in einer enormen Größe wie The Villages, Sun City oder Celebration vor allem in den USA weiterhin. Daher wurde unser Interesse geweckt herauszufinden: Warum wollen Menschen in einer Privatopia leben?
Spaß, perfekte Ausrichtung und intentionale Gemeinschaft
Um zu verdeutlichen, wieso Menschen in einer Privatopia leben wollen, werden die Gründe und Aspekte anhand verschiedener Umsetzungsbeispiele erläutert. Eines der wohl bekanntesten Beispiele, wie der Gedanke einer Privatopia in der Realität umgesetzt wurde, ist hierbei die Stadt Sun City. Die Sonnenstadt, welche in der Wüste in Arizona im Südwesten der Vereinigten Staaten liegt, gilt als die weltweit erste künstlich angelegte Stadt nur für Rentner ab 55 Jahren. Erbaut wurde die 38km² große Stadt im Jahr 1959 von dem Geschäftsmann Del Webb. Die Idee von Del Webb und seiner Firma war, dass auch ältere Menschen mehr erwarten dürfen und sie sollen in ihrem Alter noch Spaß haben.
Der Spaß ist wohl einer der Gründe, wieso Menschen das Leben in einer Privatopia, wie in der Rentnerstadt Sun City bevorzugen. Um den Spaß in der Stadt und im Leben der Bewohner zu gewährleisten, wird auch viel geboten. Tausende Freizeitgruppen mit Kursen für fast jedes Hobby. Die Angebote reichen von den bekannten Sportarten wie Bowling, American Football bis hin zu außergewöhnlichen Kursen wie Töpfern, Boccia oder Tanzen in einem Ballett nur für Rentner. Neben den Kursen kommen auch Einrichtungen wie 18 Einkaufszentren, elf Golfplätze, sieben Sportzentren und Ausstattungen mit Swimmingpools und Tennisplätzen dazu. Einer der Vorteile dabei ist, die Menschen finden jemanden, der ihr Hobby oder ihre Leidenschaft teilt, wie es für Rentner in unserer Gesellschaft teils schwierig sein kann.
Neben dem ist die Stadt vollkommen auf die dort wohnende Generation ausgerichtet. Am Beispiel von Sun City bedeutet das eine nahezu barrierefreie Umgebung für die Bewohner. Dazu zählen altersgerechte Häuser auf einem Stock, breite Straßen und das Fehlen von Bordsteinen. Des Weiteren sind die Häuser mit Smart-Home- Systemen ausgestattet und auf Leihbasis können kostenlos Rollatoren und andere Hilfsmittel genutzt werden. Eine solche Ausrichtung, wie wir es in Sun City vorfinden, bildet für viele einen Vorteil und eine sichere Zukunft. Denn eine normale Stadt könnte Anpassungen in diesem Ausmaß für bestimmte homogene Gruppen kaum in die Realität umsetzen.
Manch einer hat sicher auch schon das Sprichwort; „Gleich und gleich gesellt sich gerne“ gehört. Damit verbunden ist das Leben unter Gleichgesinnten und das Bevorzugen einer intentionalen Gemeinschaft. Dabei handelt es sich um eine Lebensgemeinschaft, die auf einer gemeinsamen Absicht einer Intention beruht. Geprägt wird der Begriff seit 1948. Er steht als Sammelbegriff unter anderem für Wohnprojekte oder Kommunen, in denen die Menschen gezielt im Alltag gemeinschaftlich leben und vieles miteinander teilen. Das Leben in einer intentionalen Gemeinschaft sorgt für ein Zugehörigkeitsgefühl bei jedem Mitglied. Das Gefühl, gemeinsam mit anderen gleichgesinnten Menschen ein Ziel zu verfolgen. Die gemeinsame Intention der Bewohner von Sun City ist es, das Alter mit Spaß zu genießen und die letzten Jahre mit Gleichgesinnten zu verbringen. Einsamkeit, welche vielen Menschen im Alter drohen kann, lässt sich hier nicht finden. Dazu kommt, dass das Streben nach gleichen Zielen Konflikte reduziert oder erst gar nicht entstehen lässt. Vielmehr unterstützen sich die Bewohner gegenseitig und sind ehrenamtlich in Hilfsorganisationen aktiv. In einer Privatopia lässt sich das Leben anpassen und sicher gestalten.
So kann die Sicherheit in einer Privatopia einerseits durch die Gemeinschaft vermittelt und andererseits in Form von erhöhten Sicherheitsmaßnahmen gewährleistet werden. Sicherheit in ausgeprägter Form lässt sich in einer Gated Community finden. So auch in der ersten deutschen Umsetzung der Arcadia in Potsdam. Diese Wohnsiedlung bietet den Bewohnern mehr Sicherheit durch Zäune, Eingangskontrollen und Sicherheitskameras. Ohne Erlaubnis ist der Zugang für die Öffentlichkeit nicht möglich. In einer Gated Community fühlen sich die Bewohner beschützt vor den “Gefahren” der Welt von außen. In Städten, die eine hohe Kriminalitätsrate aufweisen, ist der Wunsch nach zusätzlicher Sicherheit nachvollziehbar.
Die Regeln, welche bisher ausschließlich negativ betrachtet wurden, können für einige Menschen auch ein Grund sein, das Leben in einer Privatopia zu begrüßen. Denn Regeln können für Stabilität, feste Rahmenbedingungen, klare Strukturen sorgen und dadurch einen gewissen Lebensstandard gewährleisten. Gerade ältere Menschen wünschen sich oftmals Stabilität in ihrem Umfeld und können mit schneller und großer Veränderung nicht gut umgehen. Auch lässt sich vermuten, dass Personengruppen, welche mit zu viel Freiheit überfordert sind, Regeln begrüßen, da sie sich an diese halten können und ihrem Leben eine Richtung geben.
Bei den hier vorgestellten Punkten handelt es sich ausschließlich um eine Auswahl an möglichen Gründen, warum Menschen in einer Privatopia leben möchten. Möglicherweise finden Sie auch noch weitere Gründe und Argumente, welche das Leben in einer Privatopia erstrebenswert machen. Genauso wie Sie auch weitere Kritikpunkte finden können. Die Entscheidung, ob das Leben in einer Privatopia eine gewünschte Alternative zu anderen Wohn- und Lebensformen und für einen selbst bietet, ist schlussendlich jedem selbst überlassen.
Verfasst von: Katharina Flaig und Rhea Kaes
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