Die Tür öffnete sich quietschend. Hatte sie sich schon immer so angehört? Im Inneren war es kalt und verlassen. Die Spätsonne schien durch die große Fensterfront im Wohnzimmer, sichtbar von der Tür aus. Rechts davon wäre die Küche — und das Waschbecken.
Gelassen trug Pavel seine Utensilien hinein und stellte sie auf der Küchenzeile ab. Die wenigsten Geister waren sonderlich schnell in ihren Reaktionen. Sie bemerkten zwar die Anwesenheit, ihre Handlungen waren jedoch zeitverzögert. Er würde ein paar Minuten haben, bevor die Sache ernst werden sollte. Madeline und Joshua verweilten draußen, auch ohne Bitte, ihm nicht zu folgen. Nichts war lästiger als Klienten, die glaubten, ihm eine Hilfe sein zu können. Für gewöhnlich verschlimmerte es nur eine Heimsuchung, weil die Stimmung untereinander litt.
Mit ihm bekannten Handgriffen, errichtete er ein Stativ und montierte eine digitale Kamera. Sie war nicht unbedingt die Schönste, noch die Beste, diente jedoch auch nicht dazu, wundervolle Bilder von Innenarchitektur und -einrichtungen zu machen. Das, was sie aufnehmen sollte, war fernab allem, was jemand auf seinen Bildern finden wollte. Das Objektiv richtete sich direkt auf das Waschbecken. Er würde in ein paar Minuten, wenn die ersten Bilder geschossen werden, auf das Kinderzimmer wechseln. Jeder Geist bewegte sich anders. Manche blieben an einem bestimmten Ort in einem Gebäude, sei es aufgrund eines Gegenstandes, einer alten Erinnerung oder manchmal auch Zufall. Dadurch, dass er verlangte, dass sie das Haus verlassen sollten, war es nicht unmöglich, dass er das gesamte Gebäude für sich beansprucht hatte. Territoriales Verhalten war, wenn Pavel sich recht entsinnte, ein wesentlicher Charakterzug des Verstorbenen. Damals waren es überwiegend Frauen gewesen, gebunden an ihre Hausarbeiten und ihre Kinder — Geister aus einer weniger progressiven Zeit, als ihr Zuhause alles war, was sie hatten. Wozu sie erzogen worden waren, zu beschützen und instand zu halten. Männer hingegen prägten sich erfahrungsgemäß auf Objekte; sie neigten dazu, ihren Besitz verteidigen zu wollen. Moderne Geister, sofern Tote als modern gelten konnten, entsprachen diesen Beobachtungen nicht mehr. Sie waren veraltete Annahmen.
Gestorben waren in dieser Gegend jede Menge Leute — was ganz normal war. Wo Menschen lebten, starben sie auch. Sogesehen war potentiell jeder der Grund für eine Heimsuchung. Er könnte über den örtlichen Friedhof gehen und jeden Namen abschreiben. Doch das würde nur Zeit vergeuden und letztlich auch keinen Unterschied machen. Geister austreiben konnte auf viele Arten und Weisen durchgeführt werden, dafür mussten sie nicht zwangsläufig per Namen gekannt werden. Tote hatten ohnehin keinen nachweislichen Bezug auf ihr damaliges Leben, geschweige denn ihren Namen. Überbleibsel eines Scherbenhaufens galten nicht mehr als Vase, sondern nur als Staub. Was sie gewesen waren, spielte weniger eine Rolle als das, was sie jetzt für Probleme bereiteten. Unordnung. Und wer war er, wenn nicht ein gewissenhafter Reinigungsdienst?
Trotz der uncharmanten Verbildlichung gab es notwendige Kategorisierungen, um Lösungsmöglichkeiten einschätzen zu können. Nicht alle Geister spuken aus denselben Gründen, mit derselben Konzentration an Energien und demselben Ziel. Es war nicht so, als folgten sie einer geplanten Agenda und ließen nicht locker, bis sich diese erfüllt hatte, trotzdem schienen sie ein Muster zu besitzen. Als wären sie gefangen in einem vorgefertigten Pfad, ausgelöst durch Trauma während ihres Todes; Verlustängste, Sorgen, sogar Liebe und Hass. Niemand wurde ein Geist, weil die Person es sich wünschte — es waren ungewollte Unfälle. Und je länger sie existieren, desto weniger glichen ihre “Gründe” für ihre Existenz dem Ursprung. Was mit Liebe begann, konnte mit Hass enden. Eine verzerrte Darstellung ihres Wesens, obwohl die Person zu Lebzeiten liebevoll und fürsorglich gewesen sein könnte.
Fakt war, bevor Pavel die richtigen Maßnahmen einleiten konnte, musste er herausfinden, welche Kategorie Geist er vor sich hatte. Es gab keine wirklich feste Regel, nach der eine Einordnung stattfand. Zwar gab es unzählige Möglichkeiten, um sich mit anderen Enthusiasten auszutauschen, doch ein festes Regelwerk besaßen sie nicht. Die meiste Erfahrung hatte Pavel selbst gesammelt, aus dem einfachen Grund der Neugierde. Seine Aufzeichnungen und Erklärungen hatten mit den von anderen begonnen und sich mit der Zeit immer weiter zu eigenen gewandelt, sodass die Erfahrungen seiner Vorgänger nur als lose Inspiration galt. Pavel machte aus seinem Beruf keine große Wissenschaft. Er wollte damit weder berühmt noch beliebt werden, wie es so manch anderer versuchte. Er wollte Wissen.
Als die Kamera stand und leise Geräusche von sich gab, während eine Langzeitaufnahme durchgeführt wurde, zog er einen Gegenstand hervor, den Madeline zuvor als Walkman deklariert hatte. In Wahrheit handelte es sich dabei um ein kleines Radio, das darauf wartete, dass ein Geist auf die Frequenzen ansprang, die das Gerät so verbittert suchte. Nicht alle Geister reagierten darauf oder fühlten sich motiviert, damit zu interagieren. Beide Möglichkeiten lieferten einen Beweis für eine Deutung. Pavel steckte das Gerät ein und griff stattdessen erst einmal zu der Schwarzlichttaschenlampe. Glücklicherweise war es spät genug, um den lila Lichtkegel halbwegs erkennen zu können, sobald dieser auf den Möbeln aufschlug.
Bekanntermaßen ist es möglich, unter UV-Licht menschliche Substanzen zu sehen, darunter Blut, Spermien und Urin. Davon wollte er allerdings nichts entdecken. Stattdessen ging es ihm um Handabdrücke. Abdrücke, die übernatürlicher Natur waren. Nicht alle Geister waren geneigt, ihre Umgebung zu berühren.
In Stille gehüllt, untersuchte Pavel die Küche und den umliegenden Bereich. Es war verhältnismäßig warm, obwohl das Haus seit dem letzten Abend verlassen dalag.
Das Waschbecken war frei von kürzlichen Spuren. Berührungen von Geistern haften nicht allzu lange auf Gegenständen. Unmittelbar konnte er keine Aktivität feststellen, also griff er zum Nächsten.
Madeline hatte erwähnt, dass der Geist mit ihr kommuniziert hätte. Er war kontaktfreudig und wusste, was Sprache bedeutete. Diese Fähigkeit besaßen nicht alle Wiedergänger.
Pavel legte ein Notizbuch offen auf die Küchenzeile, darauf ein Bleistift. Viele Seiten waren bereits mit allerhand Kritzeleien versehen. Manchmal in Textform, meist nur in wirren Bildern, die der Interpretation bedürfen.
Ein eindeutiges Klicken verriet ihm, dass ein Foto geschossen wurde. Kurz spielte er mit dem Gedanken, bereits danach zu sehen, übte sich dann aber in Geduld und ließ die Kamera von Neuem starten. Stattdessen widmete er sich einem weiteren Werkzeug. Der sogenannte Rem Pod war ein kleines, zylinderförmiges Gerät, mit einem Kranz aus LEDs und einem leuchtenden Mittelpunkt. Es verhält sich ähnlich wie die tragbare Variante und reagiert auf Veränderungen des elektromagnetischen Feldes. Bekanntermaßen gelten Geister als geballte Energien, die allerhand Frequenzen stören können. Seien es menschliche oder technische. Je näher ein Geist sich dem Gerät nähert, desto bunter und lauter schlägt es aus. Erfahrungsgemäß lässt sich dies auf alle Sorten anwenden. Einzig und allein die Intensität variiert. Darüberhinaus bringt es Aufschluss darüber, wo der Geist sich befindet.
Um nicht im Bild der Kamera zu landen, ging er in die Hocke und schob das Gerät mit einem leichten Schubs über den Boden. Seine eigene Präsenz eröffnete ein Gewitter aus bunten Lichtern und einem schrillen Ton. Als er sich wieder entfernte, verstummte es.
Pavel war ehrlich zu sich selbst: der Anfang war der langweiligste Teil. Trotz des mühseligen Aufbaus bedeutete es nicht zwangsläufig, dass der Geist sich in einem angenehmen zeitlichen Rahmen zeigte. Dieser musste nicht einmal in genau diesem Umkreis spuken. Das war der Jagd-Aspekt an der ganzen Operation.
Sich als Jäger zu bezeichnen, lag nicht angenehm auf seiner Zunge. Es klang aggressiv und eindringend. Im Gegensatz zu einem Jäger, der das Leben nahm, war sein Ziel bereits verstorben und steckte in einer Zwischenebene fest, aus der sie für gewöhnlich ohne fremde Hilfe nicht entkommen konnten. Er half ihnen.
Pavel brachte nicht die Mühe auf, noch mehr Utensilien aufzubauen. Er erwartete längst ein Ergebnis und ein Zeichen. Er wusste, dass die meisten paranormalen Ermittler dazu tendieren, pausenlos zu reden. Meist nicht einmal mit dem Geist, sondern vielmehr zu sich selbst. Der Inhalt ihrer Worte spielte dabei auch weniger eine Rolle als den Reiz, den sie dabei lostreten. Geister, die ein Gebiet vor angeblichen Eindringlingen schützen wollten, wurden von aller Art der Schaustellung erzürnt. Ruhige Anwesenheit oder sinnloses Geplapper wirkte dabei gleichermaßen. In den ein oder anderen Foren, in denen Pavel nur selten einen Blick warf — damals mehr als heute — schworen sie auf sofortige Geistererscheinungen, wenn man die richtigen Worte wähle.
“Ey”, rief Pavel harsch in den Raum hinein. “Zeig dich.”
Eine eher ungalante Aufforderung, er ging jedoch nicht davon aus, dass er wörtlich verstanden wurde. Es war wie der Name eines Hundes. Einem Pudel war es herzlich egal, ob er Brutus, Stella oder Pumpernickel hieß — es zählte lediglich die Betonung.
Der Geist fühlte sich offensichtlich nicht angesprochen. Das Auslösen der Kamera nahm Pavel daher zum Anlass, den Raum zu wechseln. Bevor er anfing, wahllos durch das Haus zu irren, suchte er das Kinderzimmer auf, in dem Mrs Clover eine Drohung erhalten hatte.
Der Anblick des Kinderzimmers erweckte keinerlei Gefühle in ihm. Weder Wünsche noch Zeitdruck. Kinder waren für ihn der Inbegriff von Familie — und Familie bedeutete ihm nichts.
Kalt und leblos lag der Raum da, eingehüllt im fahlen Licht des nahenden Abends. Der Raum wirkte niedrig saturiert, in bläulichen Tönen gehalten. Spielzeug lag wirr verteilt in der Gegend herum. Das Radio war still. Pavel wiederholte das Prozedere.
Im Gegensatz zur Küche bemerkte Pavel nach wenigen Augenblicken einen Unterschied. Sein Atem kräuselte sich vor seinen Lippen und unweigerlich löste sich ein Schauer. Ganz gleich wie oft er es bereits in seinem Leben getan hatte, sein verräterisches Herz beschleunigte seinen Schlag und überzog ihn mit einer Welle aus Nervosität.
Konzentriert schloss er die Augen, atmete tief ein und festigte seinen Griff um das Thermometer. Er warf einen Blick hinab und sah zu, wie das Quecksilber sank. Gefriertemperaturen.
Viele Menschen, die einem Geist begegneten, sprachen von niedrigen Temperaturen.Von Kälteschauern und sichtbarem Atem. Die meisten gespenstischen Erscheinungen sorgten für einen Abfall — nicht alle bis zum Gefrierpunkt.
Aus der Innentasche seines Mantels zog er sein Notizbuch hervor und schrieb seinen ersten Hinweis nieder.
Die Kamera reagierte. Diesmal ließ er sich von seiner Ungeduld leiten und entfernte sie vom Stativ, um durch die Bilder zu blättern. Wie erwartet, fanden sich in der Küche keine Auffälligkeiten. Das Fotografieren von Geistern war keine besondere Kunst, geschweige denn zuverlässig. Viele behaupteten, bereits einen Geist fotografiert zu haben, obwohl es sich bloß um Schmutz auf der Linse oder hektische Bewegungen handelte. Selten war es möglich mit einem einfachen Klick detailreiche und reine Aufnahmen zu machen. Um Geister — oder vielmehr Hinweise auf ihre Anwesenheit zu erfassen — bedurfte es einem einfachen Trick. Die Langzeitaufnahme. Dadurch wurden normale Bewegungen verschwommen dargestellt, doch Geisterpartikel erhielten eine Form.
Geister tendieren nicht dazu, für ein Foto zu posieren. Es ist, als würde man versuchen, ein Bild zu machen, während sie den schnellsten Jive der Welt tanzten.
Seine Ungeduld wurde belohnt und auf dem letzten Bild konnte er eindeutig kleine runde Partikel erkennen, die zu groß und deutlich waren, um Staub zu sein. Geisterorbs, wie sich die “Community” geeinigt hatte. Was für viele eine bloße Streuung von Teilchen zwischen Motiv und Kamera darstellte, war für das geschulte Auge weitaus mehr. Es bestätigte eine Präsenz. Eine Videokamera würde die Bewegung der Kugel einfangen, die wie lebendig durch den Raum schwebte, als würde sie einen Antrieb besitzen, statt beeinflusst von Atem, Wind und natürliche Umstände zu sein.
Zufrieden lächelte Pavel der Kamera entgegen und stellte sie erneut auf, diesmal etwas entfernter, um mehr Raum einzufangen. Dass er unter Umständen das Bild stören könnte, spielte dabei keine große Rolle mehr.
“Zeig dich”, forderte er mit fester Stimme. Inzwischen war er auf den tragbaren EMF-Meter umgestiegen, das leise elektronische Geräusche von sich gab, während die LED-Leiste farblos blieb. Er schwenkte seinen Arm und sondierte den Raum. Hatte es einen Grund, weswegen der Geist das Kinderzimmer bevorzugte? Die Tochter hatte vermehrt Albträume gehabt, während die Eltern bis vor kurzem in Unwissenheit über ihrem Besucher gelegen hatten. Damit sich ein Geist an einen Menschen band, brauchte es mehr als bloße Willkür. Und er bezweifelte, dass eine Fünfjährige ein Verständnis für Beschwörungen hatte.
Gerade als er wieder den Mund öffnen wollte, polterte etwas rosafarbenes von der Kommode und kullerte in Richtung Bett. Der EMF-Meter reagierte sofort und piepste unangenehm schrill, wies aber nur eine Stärke von rund drei an. Was auf einer Skala bis fünf moderat war. Je höher der Wert, desto stärker ist die Manifestation des Geistes.
In binnen Sekunden erhielt Pavel mehrere Reaktionen.
Neben dem Flug mehrerer Gegenstände, die zunehmend deutlicher seine Richtung ansteuerten, wurde die Kälte intensiver.
Der EMF-Meter schlug wild umher, unsicher, was genau er aufnahm.
Der Atem in seinem Nacken war definitiv nicht sein eigener.
Pavel rührte sich nicht und regulierte seinen Puls, beruhigte sich mit einem stillen Mantra. Aufregung spornte sie an. Geister waren gebündelte Energien, sie suchten ähnliche Frequenzen. Hass, Angst, Panik, Liebe. Wie ein Blatt in einem Memory. Doch im Gegensatz zu einem Spiel, wollte er in diesem speziellen Fall nicht gewinnen.
Seine Nackenhaare senkten sich, als der Geist sich löste. Das Gerät verstummte. Für einen Moment konnte er durchatmen. Ihm fehlte noch immer ein entscheidender Beweis. Auch wenn seine Intuition sich meldete, wollte er keine falschen Schlüsse ziehen.
Das Notizbuch, in dem er allerhand Unterschriften der Toten gesammelt hatte, lag aufgeschlagen im Kinderzimmer.
Präventiv stattete er sich mit einer Streupackung Salz aus, um leichte Angriffe verhindern zu können. Gerade, als er den Deckel zur Vorbereitung öffnen wollte, flog ein Bauklotz mit zielsicherer Präzision direkt auf ihn zu. Pavel konnte nicht viel tun außer verdutzt zu schauen, da wurde er bereits mitten an der Schläfe getroffen. Erschrocken stürzte er zurück und gegen ein hüfthohes Regal. Der unsicher hineingelegte Inhalt aus Stofftieren, Kinderbüchern und scharfkantigen Spielsteinen ergoss sich über ihn und erzeugte einen so gigantischen Lärm, dass er in der Stille der Auffahrt vermutlich gehört werden konnte. Er konnte froh sein, dass er direkt nicht gefilmt wurde. Enttäuscht von sich selbst, seufzte er schwerfällig und grub sich aus dem Haufen. Erst die Bewegung verdeutlichte ihm, dass etwas ihn am Kopf getroffen haben musste. Stöhnend richtete er sich auf. Das meiste vom Salz hatte er im Sturz verschüttet. Der Geist wollte ihn offenbar genauso loswerden, wie er ihn.
Und er war sehr deutlich in seiner Forderung.
Wild flatterten die Seiten im Notizbuch, als würde er die Werke seiner Vorgänger betrachten und sich inspirieren lassen. Schwarze Linien zogen sich von Seite zu Seite, ruinierten die unbeschriebenen Blätter, bis er stoppte und Buchstaben bildete — gewidmet auf jedem Blatt.
R — Pavel kauerte am Boden und beobachtete den Stift.
A — Hastig griff er nach der Kamera und änderte die Einstellung.
U — Er schoss ein Bild nach dem anderen.
S — Es fühlte sich an, als würde das Kinderzimmer beben, doch Pavel wusste, dass es die Kräfte aller Geister überstieg.
H — Stattdessen spielte sein eigener Verstand verrückt, belastet von der Präsenz der Toten.
I — Und von der Übermüdung, die sein Schlafmangel unüberraschend verursachte.
E — Seine Vermutung hatte sich bestätigt.
R — Es war ein territorialer Revenant.
Hart schlug das Buch zu und Totenstille kehrte ein. Zeit bedeutete für einen Geist zwar nichts, dennoch fühlte er sich dazu motiviert, sich zu beeilen.
Schnell zog er schwarze, halbwegs sichtbare Kreide hervor, schob die Kinderspielzeuge unachtsam in andere Ecken des Raumes und zog dann einen Kreis, bei dem jeder Kunstlehrer neidisch geworden wäre. Die schwungvollen Sigillen, die er daraufhin in der Mitte zeichnete, hatte er über Jahre hinweg zur Perfektion studiert. Er trug genügend Narben, die ihn auf harte Weise aus Fehlern lernen gelassen hatte. Klischees aus Filmen, Videospielen und anderen kunstschaffenden Medien hatten ihrem Ursprung, und so war auch Latein nicht aus der Verbannung eines Geistes wegzudenken. Es ist weniger eine tote Sprache, sondern die Sprache der Toten. “Portae ad inferos”, stand in vernünftiger Druckschrift zwischen den Zeichen, die teilweise an verzierte Halbmonde erinnerte. Die Mitte bildete ein Dreieck, durchzogen von einem horizontalen Strich. Bei den meisten als Zeichen für Luft bekannt, steht es für das Reich jenseits von diesem. In den Leerräumen zwischen den Halbmonden zogen sich vereinfachte Zeichnungen ein Rundsichel, die gemäß der Darstellung mit einer Hand bedient werden könnte. Es bedeutete, etwas zu Ende zu bringen und Unglück zu vertreiben. Revenants galten als Geister, die gerufen worden waren. Zwar war kein Geist wirklich aus freien Stücken zwischen Jenseits und Diesseits gefangen, ein Revenant aber wurde seiner Reise entrissen. Er wurde gezwungen, an Ort und Stelle zu sein. Dabei ungehalten zu reagieren, erschien nachvollziehbar.
Es war nicht das Vorgehen der Kirche, die dies vermutlich als teuflisch deklariert hätte. Rund sechzig Prozent der US-Amerikaner waren Christen, Pavel gehörte nicht dazu. Ironisch, wie viele fanden, die ihn danach fragten.
Pavel stellte sich in die Mitte des Bannkreises und holte tief Luft. Zügelte seine Aufregung und versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren. Leise begann er zu murmeln. Es waren zwei Sätze, die sich immer wieder wiederholten. Bislang konnte man nicht mit Gewissheit sagen, dass sie tatsächlich eine Wirkung erzielten und notwendig war. Pavel hatte damit trotzdem gute Erfahrungen gemacht — selbst wenn es nur seinen eigenen Nerven dienlich war.
Es war ein Zusammenspiel von Wörtern, die mehr an ein Gedicht erinnerten, als an schroffe Aufforderungen. Es war eine leise Entschuldigung am Zustand des Geistes und dem Angebot, erneut Frieden in dem zu finden, was dem Toten vorherbestimmt war — wie auch immer dies aussehen mochte, denn das hatte bisher kein Geist offenbaren können.
Die Möbel bebten auf dem unsteten Boden, die Schatten spielten im Augenwinkel des Geisterjägers und ein unsäglicher Druck baute sich in seiner Schädeldecke zusammen. Als würde sein Kopf eingespannt werden, drängten sich die Schmerzen von außen an ihn heran. Er verzog das Gesicht, ließ sich aber in seiner Aussage nicht beirren.
Er spürte die Präsenz des Geistes, bevor er sich manifestierte. Bevor alle Geräte unter demselben Druck nachgaben und verrückt spielten.
Gerade als ein fahles Paar Hände sich ihm entgegen reckte, wie frische Triebe der Sonne, wich Pavel nach vorne aus, rollte regelrecht aus dem Kreis und spie die Worte aus, die er mühselig in den Kreis gezeichnet hatte.
“Excipiant te portae interitus!”
Mit Faszination und Erinnerung dessen, weswegen er sich dieser Arbeit mit Leib und Seele hingab, sah er dabei zu, wie der Geist aufleuchtete wie eine Flamme. Helles Licht, konzentriert und rein, umgab den Schemen eines Körpers und empfing diesen auf seiner Reise ins Jenseits, was auch immer ihn dort erwarten möge.
Der Schmerz ließ nach und Pavel atmete erschöpft aus. Er fiel zurück auf den weichen Teppich und fuhr sich mit den Händen durch das aufgewühlte Haar. Die Beule war bereits jetzt spürbar. Wärme kehrte zurück in den Raum und die Stille, die folgte, hatte etwas Unbefriedigendes für ihn.
Es war vorbei.
Als er das Haus verließ, begrüßten ihn zwei leere, blasse Gesichter. Selbst Joshua erschien unfähig in Worte zu fassen, was er gerade erlebt hatte. Zugegeben, die Kamera die Pavel am Körper trug, war nicht die beste und die Übertragung litt häufig an den Frequenzen, die Geister gut und gerne manipulierten, dennoch schienen Mr und Mrs Clover alle Beweise erhalten zu haben, die sie gebraucht hatten.
“Möchten Sie einen Kaffee?”, brachte Madeline Clover es letztendlich über die Lippen.
Im nun lichtdurchfluteten Wohnzimmer und der angrenzenden Küche wies nichts mehr darauf hin, dass es gespukt haben könnte. Dennoch bewegte sich Madeline vorsichtig durch ihre eigenen Flure und öffnete die Schränke mit einer Zurückhaltung, als würde sie einen Angriff erwarten. Immer wieder versuchte sie ein Gespräch zu beginnen, unterbrach sich jedoch selbst. Sie war diesmal nicht alleine gewesen, als sie das Geschehen auf dem Bildschirm beobachtet hatte. Nun konnte auch Joshua nicht mehr zweifeln. “Mit Milch und Zucker?”, fragte sie zurückhaltend.
Der Geisterjäger reagierte nicht sofort. “Weder noch”, murmelte er unkonzentriert.
Für den Moment eines Augenblicks, schien Pavel mit den Gedanken zu entschwinden. Sein Ausdruck wurde blass und leer, die Müdigkeit war so deutlich zu erkennen, dass sich Madeline ernsthafte mütterliche Sorgen darüber machte, wann der Mann zuletzt geschlafen hatte. Vielleicht war das der Nachteil, diesen Beruf gewählt zu haben.
Fest drückte er sich den blauen, kalten Beutel auf den Kopf und rollte mit den Schultern, als er aus seiner kurzzeitigen Gedankenlosigkeit zurückkehrte. Sein sanftes und professionelles Lächeln kehrte zurück, und je länger Madeline es erwiderte, desto merkwürdiger kam es ihr vor. “Wie lange machen Sie das schon?”
“Sie dürfen mich duzen, wenn Sie wollen”, bot er an. Die Höflichkeit erweckte in ihm sichtliches Unbehagen, jetzt, wo er in der Küche saß und sowohl Kekse wie auch einen Kaffee serviert bekam. “Mit Geistern setze ich mich auseinander, solange ich denken kann”, erklärte er und pustete seicht den Schaum von der Oberfläche, ehe er einen genüsslichen Schluck nahm. “Beruflich beschäftige ich mich erst seit rund fünf Jahren mit ihnen.”
“Wieso?”, stellte sie die eine Frage, die jedem auf der Zunge liegen würde.
Er schwang seinen Becher, als würde er in der Röstung nach Antworten suchen. “Manchmal suchen wir unsere Profession nicht aus, manchmal findet sie auch dich.”
Eine Gänsehaut rauschte über ihre Arme. Sie wollte nicht zu genau über diese Aussage nachdenken. Ein — nein — zwei Geister waren in ihrem Leben bereits anstrengend genug gewesen. Pavel hingegen sah aus, als wären es deutlich mehr, die seinen Frieden störten. Oder es gab ein Image zu pflegen. Der heimgesuchte Geisterjäger wirkte vermutlich besser auf dem Papier. Andererseits, wenn sie genau darüber nachdachte, konnte man dadurch auch an seinen Fähigkeiten zweifeln. Was auch immer es war, gesund schien der Mann nicht zu sein, ganz abgesehen von der Beule an seinem Kopf. “Das klingt nicht so, als würden Sie— als würdest du gerne diesen Job machen”, stellte sie stirnrunzelnd in Frage.
Pavel zuckte mit den Schultern und trank einen weiteren Schluck. “Ich liebe, was ich tue”, gab er zu, doch sein Äußeres machte es schwer, das zu glauben. “Das macht es aber nicht weniger anstrengend.”
“Dabei hat das alles nicht länger als eine Stunde gedauert?”, lobte und hinterfragte Joshua zugleich. Ein wenig konnte Madeline Anerkennung vernehmen. Im Vergleich zu Beginn des Treffens erfüllte diese Wandlung ihres Mannes sie mit Stolz.
“Nur weil etwas schnell geht, ist es nicht weniger anstrengend”, lehrte der Geisterjäger. “Ich habe Narben von Treffen, die nicht einmal zehn Minuten gedauert haben.”
“Ich wiederhole mich nur ungern und ich bitte um Verzeihung, wenn das zu… neugierig ist, aber wieso?” Madeline hob die Brauen sorgenvoll. Willentlich den Tod in Kauf nehmen und Verletzungen erleiden, die Spuren hinterlassen, bedarf eine ganz besonders zerstörerische Art von Menschen. “Selbst wenn etwas dich dazu anfänglich gebracht hat, hat man letztlich doch immer noch die Wahl?”
Das Lächeln auf seinen Lippen verfälschte sich zunehmend. “Mit dem Geld verdienen, was einen am Meisten interessiert, denke ich, ist Glück, das viele andere nicht haben.”
Nicht nur Joshua bemerkte, dass er nicht wirklich auf die Frage antwortete. Zugegeben, einem Fremden die Motivationen und Beweggründe nicht offenzulegen, ist nachvollziehbar und kein Verbrechen. Trotzdem stimmte es sie ein kleines bisschen traurig. Jetzt, wo die Gefahr gebannt war, entflammte neues Interesse in ihr.
“Wie kommt es, dass wir den Geist so spät mitbekommen haben?”, fragte sie stattdessen.
“Tiere und Kinder sehen die Welt meistens so, wie sie ihnen dargeboten wird. Sie legen der Wahrnehmung keine Logik dar. Ein Hund versteht nicht, wie ein Spiegel funktioniert, ein Kind sieht eine Gestalt und erklärt es sich nicht mit einem zufällig günstigen Zusammenspiel von Licht und Schatten. Wir sehen sie häufiger, als wir uns eingestehen wollen.” Er wirkte nicht beunruhigt, während er dies sagte. Geister wahrzunehmen, war sein Job. Madeline wollte nie wieder einen sehen müssen.
“Sind sie auch jetzt gerade…”, unterbrach sich Joshua selbst und verstummte, aus Angst vor der Antwort.
Pavel schien das zu bemerken und betrachtete ihn für ein paar Sekunden abschätzend. “Nimm die Antwort, die dich besser schlafen lässt.”
Madeline überspielte ihre eigene Furcht mit einem zarten Kichern, bevor sie die Kaffeekanne hob und zum Ausschenken ansetzen wollte. Doch Pavel schüttelte die Hand in Ablehnung.
“Ich möchte euch nicht länger aufhalten. Ich bedanke mich sehr für die Gastfreundschaft und das Vertrauen. Möchtet ihr die Rechnung schriftlich oder digital erhalten?”
Joshua gab ein leises, nur für Maddy hörbares, Brummen von sich. Sie lächelte allerdings. “Digital reicht vollkommen aus. Ich schreibe dir die Mailadresse auf.”
Nachdem sie noch ein paar Kontaktdaten und Höflichkeiten ausgetauscht hatten, sammelte Pavel seine Habseligkeiten ein und verließ die Familie ohne einen weiteren Blick nach hinten.
Madeline schloss die Tür und Stille kehrte ein, einzig und allein durchbrochen vom stetigen Ticken einer Uhr. Tief atmete die Brünette ein und drückte den Kühlbeutel in ihrer Hand so fest, dass er beinahe platzte. Joshua war ins Wohnzimmer gelaufen und ließ sich erschöpft fallen, als wäre er derjenige gewesen, der einen Knochenjob hinter sich hatte. Langsam gesellte sie sich zu ihm. “Das war der merkwürdigste Tag meines ganzen Lebens”, gab Joshua zu und suchte im Blick seiner Frau eine ähnliche Auffassung.
“Ich hoffe auch nicht, dass er sich wiederholen wird.” Schwerfällig setzte sie sich neben ihn und schmiegte sich an seine Seite. Die Beine hochgezogen und angewinkelt, sodass sie beinahe auf seinem Schoß ruhten. Sein Arm legte sich sogleich um sie.
“Warum hast du ihn zum Kaffee eingeladen?”, wollte er daraufhin wissen. Madeline spürte in der Frage einen Ton, der einer Diskussion voran ging. Ungewöhnlich, denn sonst beunruhigte ihn die Gegenwart von anderen Männern nicht.
“Es erschien mir nur fair. Und ich war neugierig”, gab sie zu.
“Zugegeben, ich auch.” Er lehnte den Kopf zur Seite und gegen ihren. “Aber ich finde ihn auch dubios. Es wäre cool, wenn wir das beim nächsten Mal vorher klären könnten… Ich möchte nicht jeden gruseligen Typen zum Essen zu Besuch haben.”
“So wie er aussieht, hätte ein gutes Abendessen ihm gut getan”, witzelte Madeline.
“Ich glaube, so viele Vitamine hättest du ihm nicht auftischen können. Er sah aus, als bräche er gleich zusammen.”
Ein Gefühl von Mitleid schlug seine Wurzeln. “Bei dem, was er tut, finde ich es wenig überraschend.”
“Er wird sich sicherlich wieder erholen, sobald er seine Rechnung geschickt hat.”
“Sei nicht so negativ.” Sie stieß ihm sachte in die Seite. “Ich fand ihn nett, unaufdringlich und er hat seinen Job gemacht, soweit ich das beurteilen kann. Ich mein, brauchst du noch mehr Beweise als die, die er dir gegeben hat?”
Joshua erschauderte. “Es könnte Photoshop sein…”
Sie schlug ihn sachte mit einem Lachen. “Ach sei still, du verkappter Skeptiker.”
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