Tumgik
#VictimStory
rathertomorrow · 5 years
Text
Sach- und Lachgeschichte
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Als Kind, das nicht geschlagen wurde und nur KIKA schauen durfte, besitzt man eine Verletzlichkeit, die durch fast nichts unterboten werden kann.
Man wächst auf, und ist sich der Hässlichkeit der Welt in keinster Weise bewusst.
Alle Sach- und Lachgeschichten sind gelogen.
Man liest die Bravo und denkt; Lisa (17), die fragt, was sie tun soll, wenn ihr Freund sie schlägt, - das ist völlig abstrakt. Das betrifft mich nicht. Leute die sich gegenseitig weh tun, das gibt es nur im Krimi und in der Tagesschau. Aber nicht bei mir zuhause.
Man tut es ab, sortiert es aus, nimmt axiomal an, dass man selbst niemals mit dieser Problematik konfrontiert werden wird. Denn man passt nicht ins Raster.
Gewaltopfer? Das sind doch Frauen die Drogen nehmen und sich Männer aussuchen, die schon so aussehen. Nicht ich; emanzipiert, schlau und sich ihrer selbst im vollsten Maße bewusst.
Ich dachte einen Mann, der mir etwas Böses will rieche ich 100 arrogante Blicke gegen sein Aftershave.
Bis der Tag kam, an dem das Gegenteil mir ins Gesicht Schlug.
M war sehr dünn und kaum größer als ich. Er machte irgendwas mit Design. Er fuhr einen Golf, manchmal Skateboard. Er kümmerte sich um seinen kranken Vater und konnte gut Nudeln mit Tomatensoße. Er konnte vieles gut. Er war 23 und völlig normal. Als mein 17 Jähriges Ich ihn auf dem Konzert ansprach, hätte ich niemals erraten, wie wir beide enden würden.
Und dennoch meinte ich im Nachhinein es besser gewusst haben zu können.
Jede zweite Frau war oder ist Gewaltopfer. Das heißt zwingend, dass sich einige davon in meinem Dunstkreis befinden. Aber  ich? Ich; Zahnarzttochter, hochbegabt, und nichts, was gegen eine strahlende Zukunft spricht.  Mein Leben – eine einzige Sach- und Lachgeschichte. Bis dahin.
Bis mein Kopf sich immer schneller der kalten, unnachgiebigen Wand nähert. Sprachtalent, 1 im Abi, Gewaltopfer.
Was ich mich als nächstes fragte: Hätte ich mich schützen können?
Bei der Suche auf die Antwort dieser Frage habe ich versucht alle Eventualitäten zu berücksichtigen.
Aber bevor man sich mit Sympthomatiken oder Schuldzuweisungen beschäftigt, sollte man nach dem Grund suchen, oder wenigstens nach dem Ursprung des Dilemmas.
Wieso tut M, 23, Produktdesigner so etwas. Den Grund kurz zu fassen fällt schwer und scheint der Situation nicht gerecht zu werden. Doch ein Wort passt besonders gut: Schwäche.
Die Pamflete der Polizei für Opfer häuslicher Gewalt hat recht: „Gewalt ist schwach“
Kommt ein Mann in eine Situation in der er sich mit seinen intellektuellen Waffen seinem Gegenüber nicht mehr ebenbürtig fühlt und seiner Stärke durch Worte keinen Ausdruck mehr verleihen kann, greift er auf ein Mittel zurück, welches ihm von der Gesellschaft zwar als eine unerwünschte, aber dennoch mögliche alternative antrainiert wurde: Gewalt.
M und ich haben manchmal, noch Kontakt. Jahre später fiel der Satz: „Es gibt keinen Tag, an dem ich mich nicht für das hasse, was ich dir angetan habe.“ - Und ich glaube ihm.
Nicht weil ich schwach bin, oder es für ein Kavaliersdelikt halte, sondern weil ich ihn nicht als einen Gewaltbereiten Unmensch in Erinnerung halten möchte, sondern als einen Mann, von dem ich sehr viel gelernt habe. Ich bin Ihm jeden Tag dankbar, für das was passiert ist, da er mich davor bewahrt hat, den größten Fehler meines Lebens zu begehen, indem ich diesen Mensch unter falschen Annahmen zu meinem Ehemann gemacht hätte. Ich glaube ich habe sehr viel Heilung darin gefunden mir klar zu machen, wie schwach M war und ist.
Im Nachhinein ist mir bewusst, dass unser Verhältnis schon die ganze Zeit ein sehr starkes Gefälle aufgewiesen hat, für welches ich nie Empfänglichkeit hatte.
Ich war die Abiturientin, angehende Akademikerin aus der Großstadt. M, aufwachsen ohne Mama, ein kranker Vater der ihn schlägt, immer grade so versetzt, Dorfjugend. Er konnte sich in seinem Leben nie behaupten, während ich kaum jemals in die Verlegenheit kam, dies tun zu müssen.
Immer Rückhalt meiner Familie, belesen, bereist, beliebt. Er sah in mir sicherlich viele Dinge, die er bei sich selbst als Defizite vorfand. Es war fast so, als wolle er sich meine Schönheit und Stärke zu Eigen machen. Er absorbierte mich, um seine Schwächen kompensieren zu können.
Doch es gelang ihm nicht. Ich wollte nicht das Pflaster seines Weltschmerzes sein, und ich konnte auch nicht.
Ich lebe um meines Selbst Willens, und nicht, um ein besonders hübsches, hilfloses Mädchen zu sein, mit dem er seine sinkende Titanic schmückt.
Doch still und leise machte er mich dazu, und alle merkten es, außer mir, vor lauter Liebe.
Der Schlag der mich weckte, war wahrscheinlich der einzige Weg zur Selbsterkenntnis. Wäre es auch nur ein kleines bisschen weniger schlimm gewesen, hätte ich weiter geschlafen. Ich glaube nicht, dass ich es auf einem Anderen Weg jemals verstanden hätte. Niemals wäre ich freiwillig von diesem sinkenden Schiff gesprungen. Und ich bin froh und erleichtert, dass er mich am ende nicht vor die Wahl stellte, und mich einfach hinunter schubste.
Die Kunst darin, kein Opfer zu werden, besteht also darin, den Moment zu erkennen, in dem es sinnvoll ist zu springen; in ein Rettungsboot zu steigen. Bevor man geschubst wird, oder noch schlimmer, bevor man in den Tiefen versinkt, ohne den Untergang überhaupt kommen gesehen zu haben.
Und trotz aller Analyse und Beschuldigung kann man eines in diesem Zusammenhang niemals tun: Dem Opfer die Schuld zuweisen.
Häusliche Gewalt ist so vieles, aber vor allem ist sie eins: Schwach.
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