Tumgik
#schremsers schreibsalon
Text
Stille
Vorgestern … :
rote, stroboskopische blitze am horizont, unregelmäßige atmung, erhöhte pulswerte, kalter schweiß, schmerzverzerrte gesichtszüge. 
der alte flussdampfer stand auf dem feuchten kopfsteinpflaster am fuße des burgwalls, trossen hingen am bug herab, nur mit lendenschurzen bekleidete indios mit eingeschüchterten mienen warteten auf irgendetwas. schon aus der entfernung hörte man eine männliche stimme, die unsagbar aggressiv und beleidigend klang. ich sah beim näherkommen, wie klaus kinski gerade werner herzog mit all seinem hass überzog, anscheinend war er nicht zufrieden mit der verpflegung am film-set, was für ein blasiertes arschloch, aber herzog bleibt die ruhe selbst, was für ein profi im umgang mit fragilen persönlichkeiten bei der gratwanderung zwischen genie und wahnsinn! oben an der brücke lehnte enstpannt mein cousin olaf über der reling, ich hatte ihn erst kaum erkannt, denn er trug ein auffallend klischeehaftes kapitänskostum einschließlich weiß-schwarz geringeltem shirt, angeklebtem, weißem bart und qualmender pfeife, die locker aus seinem linken mundwinkel ragte. am abend zuvor war ich mit den anderen matrosen in einer kaschemme versackt, jetzt fühlte ich mich flau im magen, weich in den knien und hatte ein schlechtes gewissen, weil ich fürchtete, zu spät zu kommen. ich hatte olafs angebot gern angenommen, als aushilfsmatrose mit auf große fahrt zu gehen, um endlich nach kuba zu gelangen. und ich wollte meinen cousin auf keinen fall enttäuschen!
Ich konnte die gerade geträumte Sequenz nicht einordnen, obwohl sie absolut real auf mich wirkte, aber gleichzeitig aus einer ganz anderen Welt. Doch der Computer machte seine Sache wie programmiert, die Dosis war schon reduziert und anregende Lichtimpulse sorgten für eine möglichst schonende Rückkehr ins Bewusstsein. Doch je weiter es zurückkehrte, desto mehr wandelte sich Verwirrung in einen Schock. Wenn die Beschreibung des Gefühls mit der Fruchtblase stimmte, dann musste das jetzt die Geburt sein. Jede Faser meines Körpers wehrte sich gegen die Rückkehr ins reale Hier und Jetzt, mein Körper bäumte sich auf, zuckte in unkontrollierten Spasmen. Die Kurven meiner Körperfunktionen auf dem Bildschirm zeigten maximale Amplituden, das Bewusstsein tauchte aus dem Nebel des Unerklärlichen auf und bewegte sich wie ein Ertrinkender mit wild rudernden Extremitäten auf das Ufer der Realität zu, das es gar nicht erreichen wollte. Vor meinen Augen intensivierten sich langsam ineinander übergehend orange und blaue Farbtöne, durch die Versorgungskanüle in meiner linken Vene strömte zusätzlich leicht dosiert das kreislaufstabilisierende Mittel. Ich musste zurückkehren, wehrte mich aber noch immer mit all meinen Kräften dagegen. Die Erfahrung der letzten Tage machte mein Hirn fast ausschließlich ohne das Bewusstsein, und erst recht ohne den Körper. Jetzt wollte es um jeden Preis zurück ins Leben, brauchte Reize, Input, und der wiederkehrende Verstand wehrte sich immer heftiger dagegen, je wacher ich wurde. In diesem Augenblick konnte ich nicht beurteilen, wer den alles abfordernden Kampf in mir gewinnen würde. Ich hatte die absolute Stille gefunden – und wie es aussah, wollte ich sie nicht wieder hergeben...
Drei Wochen zuvor
» ... ..., ... ....! «
Ich sah nur Cems Lippen, seine nickend-fragende Miene und den begeistert erhobenen Daumen, und ich war so froh, dass Cem mitspielte! Als Techniker in einem Fachgeschäft für Akustiktechnik war er die ideale Besetzung für die Umsetzung des akustischen Technikteils meines Experiments. Die Stöpsel waren dicht. Zu nahezu 100 Prozent. Die Sache damals mit dem Abistreich war extrem aus dem Ruder gelaufen, Cems Alibi konnte nie überprüft werden. Das einzige, was für ihn sprach, war meine Aussage. Der Rest war »In dubio pro reo«. Wir verstanden uns immer blind und diese Geschichte war nie mehr Thema zwischen uns, keiner hatte das Gefühl, dass etwas unausgesprochen geblieben wäre. Wahre Freundschaft.
» Was schulde ich dir? «
» Ist ok. «
» Sicher? «
» Sicher! «
Die anderen Vorkehrungen für das Experiment waren komplizierter, aber meine Kenntnisse in Medizin und IT machten weitere Mitwisser unnötig. Das kleine Ferienhaus am Rande der Ziegelei überließ mir mein Onkel schon vor Jahren, und ich ahnte schon immer, dass es eines Tages für Wichtigeres nützlich werden könnte als nur eine sporadisch genutzte Lümmelhöhle zu sein. 
Am Nachmittag war ich endlich am Haus. Zuvor hatte ich im Institut den Urlaubsantrag über zwei Wochen abzeichnen lassen und auf meinem Facebook-Profil den Status ’bin zwei wochen off, enjoy the silence!’ hinterlassen. 
Normalerweise klickte ich danach manisch alle paar Minuten auf meine digitale Pinnwand: Wie reagierten die Anderen auf meine Statusmeldungen, stiegen sie ein auf meine coole, unnahbare Rolle? Heute war alles anders! Der Rechner war schon runtergefahren. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Meine Hände und Füße waren kalt und gleichzeitig durchströmte eine warme Ahnung meine Bauchgegend.
Ich musste mich bewusst dazu zwingen, das Gepäck möglichst unwichtig aussehen zu lassen, als ich es vom Auto ins Haus trug. Alles war in zwei großen Reisetaschen verstaut, und  in den letzten Monaten hatte ich bei jedem Besuch beide Taschen dabei, wovon eine immer leer war. Ich mochte diese Art Spiel – den »Wir lieben Filme«-Werbespot einer Programmzeitschrift fand ich nicht sehr weit weg von meiner eigenen Realität. Drinnen breitete ich alle mitgebrachten Utensilien säuberlich auf dem frisch überzogenen Bettlaken aus, das die zuletzt gekaufte Antidecubitus-Matratze (gegen Wundliegen) bedeckte:
Laptop mit spezieller Software für mein Projekt (s.u.)
Vitalwertgerät
Umgebaute Skibrille mit Schnittstelle zum Rechner
Sterile Kanülen und Kleinteile (Schläuche, Tape etc.)
Gestänge für Infusionen
Tropf mit Lösung zur intravenösen Ernährung
Tropf mit Betäubungsmittel
Katheter mit Auffangflasche und Betthalter
Die Software: Sie bestand größtenteils aus gesammelten Code-Fragmenten kommerzieller Programme, die ich an die eigenen Anforderungen angepasst und an einigen Stellen ergänzt hatte. War ja nur für den Privatgebrauch. Eine von mir selbst programmierte Hintertür würde bei lebensbedrohlichen Parametern einen Notruf einschließlich exakter GPS-Koordinaten absetzen. Die LKW-Batterien im Notstromaggregat waren geladen, die Schließanlage für die Rolläden und die Lichtsteuerung im Haus programmiert.
Der Zusammenbau der Bauteile samt Verkabelung klappte reibungslos. Meine Spannung stieg trotzdem, aber ich musste jetzt versuchen, meinen Puls im Griff zu behalten. Die monatelange Vorbereitung zielte auf die kommenden fünf Tage ab. Der Moment war gekommen, gleich würde es kein Zurück mehr geben. Ich spürte die Nässe in meinen Achseln, meine Hände zitterten und das war nicht gut – denn gleich kam der Teil mit den Kanülen, die sicher in die Venen gleiten mussten.
Zu meiner eigenen Überraschung saß, als es darauf ankam, jeder Handgriff mit beinahe autistischer Präzision, die erste Kanüle glitt leicht in die Vene des linken Arms. Die auf der rechten Seite genauso. Die Art dieser perfekten Umsetzung versetze mich in eine vorsichtige Hochstimmung. Der Puls! Ruhig und tief atmen. Verdammt, ich musste mich beherrschen! Der nächste Programmpunkt »Kathederlegung« war dafür nicht hilfreich, und tatsächlich war das Brennen beim Einführen des Schlauchs kein Kinderspiel. Aber auch das war schließlich geschafft! Ich schloss die Beutel für die Flüssignahrung, die Betäubung und den Katheter an, zog die Skibrille über den Kopf, checkte wieder und wieder das Zusammenspiel aller Systeme. Die Matratze begann zu walken, als ich mich auf sie legte. Ich fixierte die Ohrschutzstöpsel, startete die Software meines Laptops, der für die nächsten fünf Tage meine digitale Intensivbetreuung werden würde. Ich übernahm ab sofort die Einleitung des Projekts »Absolute Stille«, platzierte die blickdichte Brille auf die Augen, die per LEDs über ebenfalls von der Software gesteuerte Befehle langsam pulsierende Farbwellen in meine direkte Wahrnehmung projizierte. Die Farben richteten sich dabei nach seinen Vitalfunktionen, ich hatte bei früheren Testläufen festgestellt, dass ich auf diese Art Reiz sehr gut ansprach. 
Ich spürte das Einsetzen der Betäubung, hörte absolut nichts mehr und fühlte mich so sicher wie in Abrahams Schoß. Dieses Gefühl von Geborgenheit, ein langsam waberndes, lavafarbenes Licht drang durch seine geschlossenen Lider direkt in mein kognitives Zentrum, ich befand mich umgehend in einem Zustand tiefster Zufriedenheit und war von der stofflichen, lauten und kalten Welt völlig isoliert. Ich reagierte darauf ganz ruhig, hatte das so geplant, aber mir diesen Zustand bei weitem nicht so schön, so erhebend vorgestellt.
ich war jetzt völlig mit mir allein, alles schien so aufgeräumt und klar, ich befand mich auf einem trip, der, wenn es jetzt nach mir ginge, nie enden sollte. ich war schwer und zufrieden und gleichzeitig leicht wie eine feder. und ließ mich treiben, gab jegliche aktive einflussnahme meines geistes auf. ich hatte ja auch gar keine andere wahl. in meinem kopf bauten sich kurz flüchtige, höchst surreale szenen auf. wie man sie kennt, wenn man morgens zu früh aufgewacht ist und sich noch mal umdreht. aber das war für mich nur eine durchgangsstation zu einer tieferen (un)bewusstseinsebene, ich hatte die dosierung der betäubung so berechnet, dass ich mich in dem gebiet zwischen tiefschlaf und bewusstlosigkeit aufhalten würde. mein hirn würde die eingehenden eindrücke gerade noch verarbeiten können. wenn es welche angeboten bekommen hätte. aber da war nichts. selbst die lichteffekte, die mithalfen, mich in meinen jetzigen zustand zu begleiten, waren jetzt nicht mehr nötig. meine körperfunktionen waren alle im absolut stabilen bereich. es war nicht dunkel, es war jetzt schwarz. ich hörte kein meeresrauschen oder vogelgezwitscher, ich hörte nichts – absolut nichts. ich war im auge der stille, fühlte mich, als würde ich schweben, ich war wie berauscht, aber dieses gefühl wurde nicht von gedanken in meinem kopf ausgelöst. es war kaum beschreibbar, es fühlte sich an als sei ich ein medium in einem leeren, unendlichen raum. aber dieser raum löste in mir keine beklemmungen aus, wie man sie vielleicht von bildern aus dem all bekommen würde. es hatte mehr mit freiheit zu tun, freiheit von allen sorgen, vom alltag, selbst vom eigenen körper. denn die einzige parallele mit dem all war dieses gefühl der schwerelosigkeit. ich konnte frei atmen und es war warm, vielleicht hatte es sich so zuletzt als fötus in der fruchtblase meiner mutter angefühlt. ich war mir nicht sicher, ob mir diese assoziation aktiv von meinen noch schwachen hirnströmen geschickt wurde. es war mir jetzt  auch egal. ganz egal. meine wahrnehmung war bereits jetzt eine andere, ich hatte das gefühl für die zeit komplett verloren. das war einer meiner größten wünsche, die ich im zuge dieses experimentes erfahren wollte. dass ich nicht beurteilen konnte, ob ich schon tage oder nur minuten in meiner blase verbracht hatte, hob mein hochgefühl nochmals - ganz, ganz blass am horizont des nichts erahnte ich einen auf- und abflauenden blauen lichtschein, dessen schönheit mich zutiefst berührte. in meinem aktuellen zustand konnte ich diesen nicht als vom computer gesteuerten lichtimpuls zur normalisierung meiner atem- und herzfrequenz deuten. ich wusste nicht, auf was mein hirn während der fünf tage des experiments reagieren würde. ob es denken würde? ob es die pause dankbar annehmen würde? ob es degenerieren würde? oder das gegenteil? ich wollte nur weiter schweben, weiter alles einfach geschehen lassen. ganz selten erinnerte ich mich kurz, dass ich mich vielleicht mal an etwas erinnern könnte, aber schon dieser eine gedanke beanspruchte ermüdend meine ganze geistige kapazität. und ich ließ wieder los. alles. mein hirn war plötzlich befreit von allem ballast, den unser leben mit sich bringt. es war jetzt weder sender noch empfänger, ganz auf sich allein gestellt, was diesen berauschend regenerierenden prozess in gang setzte, der reinigungsprozess der schaltzentrale übertrug sich über das rückenmark bis in die letzte zelle meines körpers. ich nahm mich schemenhaft als ein von glück und zufriedenheit pulsierendes, strahlend-universales gesamtkunstwerk wahr, das sich perfekt in diese nie zuvor erlebte schönheit und leichtigkeit einfügte, keineswegs aus ihr herausragte, perfekt in einklang und harmonie...
Heute, zurück im Hier und Jetzt
Die Sonne scheint und die Luft riecht nach Leben, Frühling, als ich auf den Stufen vor dem Theater sitze. Die Menschen sind aufgekratzt, ich schließe die Augen und konzentriere mich: Stimmen, eigentlich viel zu laut für ein Gespräch von sich Unterhaltenden. Ständig klingeln Handys. Schlager-Akustikfetzen wabern von der Bäckerei herüber. Eine Gruppe Jugendliche zieht grölend vorbei, der gequälte Smartphone-Lautsprecher knarzt verzerrt. Dem Geräusch nach zu urteilen steht an der Ampel ein hormongepeitschter Jungspund mit nervösem Gasfuß und Tuning-Auspuffanlage. Die bereifte Hülle seiner Soundanlage scheppert und vibriert ächzend unter dem zum Anschlag aufgedrehten Bretter-Techno. Reifenquietschen. Wahrscheinlich grün, eventuell ein Ampelrennen. Der Bus stoppt an der Haltestelle, gedämpfter Dieselbass, Tür-Zischen, ein Schwall laut lachender Teenie-Mädchen wird ins Freie gespuckt. Sofort klingelt und warntont es wieder. Alles gerade Hörbare wird immer stärker in den Hintergrund gedrängt. Von einem Laubbläser. Zweitakter. Der Laubbläser-Mann trägt mit Sicherheit Ohrenschützer, aber wie soll der Tinitus abends hin, wenn nicht mit zu ihm ins Bett? Das Geräusch ist unerträglich laut und von heftigster Frequenz, es gelangt grotesk übersteuert direkt in mein Hirn. Es macht aggressiv. Die nachgeordnete Kehrmaschine trägt wahrscheinlich ein ‚superschallgedämpft’-Label. Aber das Schaben der Bürsten und der Kehrmaschinenmotor breiten trotzdem einen kaum begehbaren Dezibelteppich aus, als die Maschine unmittelbar an mir vorbeireinigt. Ich habe das Gefühl, dass schon das Blut aus meinen Ohren läuft, und ich bin kurz davor, die Nerven zu verlieren. Als Bläser und Kehrer endlich wieder weit genug weg sind, wird der Schlager von eben durch House-Rythmen aus dem Laden der Hipster-Klamottenkette überlagert. Gar nicht schlecht, aber eben auch unentrinnbar... 
Der dezente Klingelton und das Vibrieren meines eigenen Mobiltelefons reißen mich aus meiner Abwesenheit. Jedes Mikrohaar in meinem Gehörgang tut mir weh, meine Empfindsamkeit ist noch immer überdurchschnittlich hoch.
Am Telefon meldet sich Cem – er fragt, ob die neuen Gehörschutzstöpsel auch wirklich taugen.
Ich muss trocken schlucken, bin desorientiert und benötige eine quälend lange Zeit, um die wie durch einen Trigger ausgelösten Gedankenblitze so gut wie möglich auszublenden.
» Ja, das tun sie. Vielleicht sogar zu gut. «
Kurzgeschichte 'STILLE' © JS 2012
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