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Lang und still ziehen sich Straßen, Treppen, Wege, Spuren von Autos und Trampelpfade durch die verschneite
Großwohnsiedlung Marzahn. Wie Monolithen ragen die Wohnblocks in den 1983 entstandenen Fotografien
des Ostberliner Künstlers Roger Melis aus der kargen Winterlandschaft und den schneeverhangenen
Baugruben der noch im Aufbau befindlichen „neuen Stadt“ hervor.
Als Antwort auf die Wohnungsfrage 1976-1990 im Nordosten Berlins erbaut, schuf die Anlage als eines der
größten Bauprojekte der DDR Raum für rund 165.000 Bewohnerinnen und Bewohner. Gepflasterte Gehwege
und Straßenbeleuchtung waren anfangs noch nicht vollständig vorhanden. Auch die überfüllten Busse wurden
erst mit der Zeit durch eine Straßenbahn ersetzt, um die Menschen zu Kneipen, Restaurants, vielseitigeren
Einkaufsmöglichkeiten oder Spielplätzen zu fahren, die erst allmählich auf Drängen der Einwohner in
Marzahn entstanden.
Die funktionale Reduzierung auf den Wohnraum, der keine Orte für gesellschaftliche Begegnung und Freizeit
vorsah, brachte der Siedlung Namen wie „Schlafstadt“ oder „Arbeiterschließfächer“ ein. Für viele standen die
Plattenbauten für eine Gesellschaft, in der tagsüber gearbeitet wird und nachts „die Arbeitskraft reproduziert“
wurde – Marzahn galt als eine der kinderreichsten Gegenden der DDR. Die Plattenbauweise, bei der
industriell vorgefertigte Elemente vor Ort zu einem größeren Gefüge zusammengesetzt werden, erscheint in
den Aufnahmen Melis’ wie eine skulpturale Entsprechung der gesellschaftlichen Glieder, die an diesem Ort in
eine gerasterte Struktur des Systems DDR eingefügt werden.
Das Interesse an Orten und dem Themenkreis Arbeit spiegelt sich zwar in den Reisereportagen und
Auftragsarbeiten Melis’ für Ost-und Westdeutsche Medien wie Sibylle, Neue Berliner Illustrierte, Wochenpost,
Merian, Die Zeit oder Geo wie auch in seinen privaten, künstlerischen „Aufnahmen für die Schublade“ wider, zu
denen auch die Kleinbild-Aufnahmen Marzahns gehören. Dennoch stellt diese Serie einen für sein Werk
untypischen Sonderfall dar. So kennzeichnet sonst eine besondere Nähe zum Menschen seine Arbeit, die zum
Teil an Straßen-Fotografien von früheren Künstlern wie Brassaï oder Henri Cartier-Bresson sowie August
Sanders Aufnahmen von Arbeitern erinnern kann, aber doch spezifisch innerhalb des Kontextes seiner Zeit in
der DDR und Berlins betrachtet werden muss. Gleichermaßen hohes Ansehen erlangte er in Ost- und
Westdeutschland für seine Portraits von Schriftstellerinnen und Künstlern wie Anna Seghers, Christa Wolf,
Heiner Müller oder Wolf Biermann. Mit Fotografinnen und Fotografen wie Sibylle Bergemann, Arno Fischer,
Brigitte Voigt und Michael Weidt gründete er 1969 die Gruppe Direkt, deren Name sich darauf bezog, dass die
Menschen auf den meisten Bildern der Künstler direkt in die Kamera blickten.
Bei den Aufnahmen von Marzahn jedoch werden die Größenverhältnisse umgekehrt: Die zu schemenhaften
Silhouetten gewordenen Körper der wenigen Menschen werden von hochgewachsenen Gebäuden, Rastern,
Linien und Flächen der vorgegebenen Infrastruktur umfasst, die im Fokus der grafischen Schwarzweißbilder
stehen. Und doch zeigen die Aufnahmen, wenn auch abstrakter, ein besonderes Interesse am Duktus der
Bewohner. Zieht doch der weiche Schnee wie eine zweite Ebene ein organisches Wegesystem in die
Landschaft: Schlittschuhe, Autos, Kinderwagen und Schritte hinterlassen als teils diffuse, teils zu langen
Bahnen und Mustern organisierte Spuren einen Abdruck der im Bild abwesenden Bewohner. So erscheint die
Serie weniger als eine klassische Architekturfotografie, denn als ein abstraktes, konzeptuelles
Gesellschaftsportrait, in dem die entstehende Architektur den im Aufbau begriffenen Staat und sein
zwiespältiges Verhältnis zwischen System und Individuum versinnbildlicht.
Die Galerie für Moderne Fotografie freut sich, erstmals eine Auswahl aus der Serie Marzahn 1983. Bilder einer
neuen Stadt von Roger Melis in einer Ausstellung zu präsentieren. Von ihm selbst als solche handschriftlich
betitelt, wurde sie bisher noch nie in diesem Umfang publiziert oder ausgestellt, mit der Ausnahme einer
einzigen Fotografie, die in der von ihm zusammengestellten Publikation „In einem stillen Land“ abgedruckt
wurde.
Text: Isabelle Busch
Für weitere Informationen kontaktieren Sie bitte Kirsten Landwehr:
[email protected]
English version
Long and silent are the streets, stairs, walkways, tire tracks, and trampled paths that wind their way through
the snow-covered, large-scale housing development of Marzahn. Like monoliths, the residential high-rises in
the photographs of East Berlin artist Roger Melis, taken in 1983, tower over the barren winter landscape and
snow-filled excavation pits of the “new city” still under construction.
Built from 1976–1990 as a response to the housing demand in northeast Berlin, the complex, one of the largest
construction projects in the GDR, created housing space for approximately 165,000 inhabitants. In the
beginning, not all areas featured paved walkways and street lighting. And a tramway to replace the crowded
buses, so that people could get to pubs, restaurants, and more varied shopping facilities or playgrounds, was
only gradually constructed over time upon the urging of Marzahn residents.
The reduction to the function of housing, which did not provide places for social encounters and leisure time,
earned the development names like “sleepy town” or “worker storage lockers.” For many, the prefabricated
high-rises represented a society in which work was carried out during the day and “the work force was
reproduced” at night—Marzahn was one of the most child populous areas in the GDR. The modular
construction methods of assembling prefabricated elements on site into larger structures come across in
Melis’s photographs like a sculptural equivalent of societal appendages that are inserted at this location into a
structural grid of the GDR system.
The interest in places and the theme of work is reflected in Melis’s travelogues and articles commissioned by
East and West German media such as Sibylle, Neue Berliner Illustrierte, Wochenpost, Merian, Die Zeit, or Geo as
well as in his personal, artistic “photographs for the file drawer,” which also include the 35mm images of
Marzahn. Nonetheless, this series represents an unusual, unique case for his work. Typically his images evince
a particular connection to people, recalling at times the street photography of earlier artists such as Brassaï or
Henri Cartier-Bresson, as well as August Sander’s photographs of workers, but which must be viewed
specifically within the context of his time in the GDR and Berlin. He also achieved great renown in East and
West Germany for his portraits of authors and artists such as Anna Seghers, Christa Wolf, Heiner Müller, or
Wolf Biermann. In 1969, he co-founded the group Direkt with photographers such as Sibylle Bergemann, Arno
Fischer, Brigitte Voigt, and Michael Weidt. Its name referred to the fact that in most of the artists’ images
people looked directly into the camera.
In the case of the Marzahn photographs, however, the relationships of scale are reversed: the figures of the
scarce people, turned into fuzzy silhouettes, are surrounded by the imposing buildings, grids, lines, and
surfaces of the given infrastructure that serves as the focus of the graphic, black and white images. Yet the
photographs, albeit more abstract, demonstrate a special interest in the particular habits and inclinations of
residents. The soft snow draws an organic system of pathways like a second layer onto the landscape: ice
skates, cars, baby carriages, and footsteps leave traces of an impression—at times diffuse, at times configured
into long pathways and patterns—of the inhabitants absent in the image. Thus, the series reads less like classic
architectural photography than it does as an abstract, conceptual portrait of society in which the emerging
architecture symbolizes the developing state and its ambivalent relationship between the system and the
individual.
The Galerie für Moderne Fotografie is pleased to present for the first time an exhibition of selected images
from the Marzahn 1983. Bilder einer neuen Stadt (Images of a New City) series by Roger Melis. Hand titled as
such by the artist himself, the series has never before been published or exhibited to this extent, with the
exception of a single photograph that was reprinted in his self-compiled publication In einem stillen Land (In a
Quiet Country).
Text: Isabelle Busch
For further information please contact Kirsten Landwehr:
[email protected]