Tumgik
everkusen · 1 year
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El Plastico
Oder: Warum Red Bull Flügel, aber keine Geschichte verleiht und Aspirin traditionell gegen Kopfschmerzen hilft.
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Seit knapp 44 Jahren ununterbrochen in der Bundesliga. UEFA-Pokalsieger vor 35 Jahren. Letzter DFB-Pokalsieg vor 30 Jahren. Wer jetzt denkt, der in der Aufzählung durch Abwesenheit glänzende deutsche Meistertitel müsse eindeutig auf den FC Schalke 04 oder zumindest einen anderen, sich historisch selbst beweihräuchernden Verein verweisen, der irrt; beschrieben wird: Bayer 04 Leverkusen.
Die Werkself, der Plastikklub, die Pillendreher. Und dann auch noch eine Jahrzehnte zurückreichende Vereinshistorie? Während Fußballromantiker noch gegen den unwillkürlich einsetzenden Brechreiz ankämpfen, wissen Realisten längst, dass der am Sonntag zwischen Leverkusen und Leipzig einmal mehr ausgetragene "El Plastico" längst schon eine Traditionsmannschaft im Produktportfolio ausweisen kann. "Mia san mia" heißt im Leverkusener Rheinfränkisch eben "Mon san to".
Die sich dabei aufdrängende Frage liegt auf der Hand: Kann ein Fußballklub mit Konzernhintergrund ein Traditionsverein sein?
Persönlich würde ich mich aufgrund beruflich bedingter juristischer Vorprägung für eine nicht in der Umfrage aufgeführte, dritte Antwortvariante entscheiden: Es kommt darauf an.
Zuvorderst kommt es auf die Definition des Begriffes "Traditionsverein" an. Eine einheitliche oder gar wissenschaftlich belastbare Definition existiert dazu nicht. Man könnte einen Traditionsverein gemeinhin als einen Verein verstehen, der auf eine lange Tradition zurückblicken kann oder das Fußballgeschehen über Jahrzehnte hinweg geprägt hat. Denkt man diesen Gedanken konsequent zu Ende, wird jeder Verein über kurz oder lang zum Traditionsverein. Wolfsburg spielt seit 26 Jahren in der Bundesliga, Hoffenheim seit 15, Leipzig seit 7 Jahren. Nenne mir die Dauer deiner Bundesligazugehörigkeit und ich nenne dir den Grad deiner Traditionalisierung. Alles eine Frage der Schwellenfestlegung.
Das Pferd ließe sich auch von hinten aufzäumen: Traditionsverein ist, wer sich des Kommerzes verweigert. Die These sieht auf den ersten Blick praktisch handhabbar aus und befriedigt zudem das einem jeden Fußballstadion eigene Grundbedürfnis der Schwarz-Weiß-Lautmalerei. Allein die Gegenprobe misslingt im Praxistest: Welcher Verein verweigert sich im profitorientierten Profifußball, der von Klubs mit mittelständischem Unternehmensprofil dominiert wird, des Kommerzes? Der Befund wäre freilich ernüchternd: Wir würden den Traditionsverein als ausgestorbenes Exemplar im historischen Fußballmuseum bestaunen.
Natürlich sind noch weitere Anknüpfungspunkte für die Klassifizierung als Traditionsverein denkbar, wie die Verwurzelung in der Region, der Anklang in sozialen Milieus oder das Vorhandensein einer aktiven Fanszene. Subsumiert man den Leverkusener Anwendungsfall unter diese Voraussetzungen, wird man bei jedem einzelnen Punkt zu einem - zwar unterschiedlich detaillierten, aber dennoch - positiven Ergebnis kommen. Logischer Schluss: Bayer 04 Leverkusen ist ein Traditionsverein. Oder?
Das Fan-Herz schreit lautstark "Ja"! Der gesunde Menschenverstand hingegen entlarvt die Traditionskategorisierung als untauglichen Versuch, einen Umgang mit den Auswüchsen und Erscheinungsformen des modernen Profifußballs zu finden. Die Kriterien sind zu wenig ausdifferenziert, eine Gesamtschau mangels feststehender Begrifflichkeit nicht zielführend. Tradition und Plastik sind Realitäten und Konzepte, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können. Es ist eher wahrscheinlich, dass sie nebeneinander existieren.
Bist du noch ein plastikfreier Traditionsverein oder schon ein traditionsreicher Plastikklub?
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