Tumgik
Link
Ich habe letzte Woche die Diskussionen unter diesem (Foto) und auch vielen anderen Beiträgen auf der Facebookseite des Vereins verfolgt und auch wenn ich mich mit meiner Meinung im St. Pauli Kosmos sehr wahrscheinlich in der Minderheit befinde, bin ich richtig enttäuscht. Wann ist die Diskussionskultur in unserer Fanszene so tief gesunken, dass mittlerweile jeder, der in dieser (erneuten) sportlichen Krise die zwanghafte Vermarktung politischer Inhalte des Vereins nicht befürwortet, zu hören bekommt er habe St. Pauli nicht verstanden oder wäre schlicht ein Idiot. Bei aller politischen Richtigkeit der Inhalte, muss es doch bei einem Fußballverein wie der FC St. Pauli, der sowohl von der (einstigen) Ausstrahlung als auch von den Mitglieder- und Besucherzahlen her auf Liga 1 Niveau ist möglich sein, den Wunsch “auf das Wesentliche zu konzentrieren” äußern zu dürfen. Schließlich haben wir es seit dem Abstieg in 2011 nicht geschafft über eine längere Zeit hinaus für kontinuierliche sportliche Entwicklung zu sorgen sondern waren in einigen dieser Jahre einem Abstieg in die Drittklassigkeit deutlich näher als einem Aufstieg.
Ja, ich sehe tatsächlich eine Parallele zwischen der sportlichen Stagnation der Fußballabteilung und der mittlerweile heftig unternehmerischen Ausrichtung des Vereins was die Vermarktung des „St. Pauli-Gefühls“ angeht. Na klar haben die Mädels und Jungs die in der Marketingabteilung arbeiten am Wochenende nicht die Aufgabe die Tore zu schießen. Aber wenn ein Verein mit USA-Reisen, Band-Kooperationen und immer neueren Merchandise-Produkten zunehmend den Fokus auf die Suche nach neuen Konsumenten der “Marke St. Pauli legt”, gerät der Fußball (wie wir das fast Jahr für immer wieder aufs Neue sehen) zwangsweise in den Hintergrund. Man verfällt in Aktionismus und holt unüberlegt die falschen Trainer und Sportdirektoren die man dann selbstverständlich in spätestens 1-1,5 Jahren auch wieder beurlaubt. Obwohl das achte Jahr in Folge einen Bilanzüberschuss erzielt wurde, investiert man verhältnismäßig wenig in die Profimannschaft. Was an sich auch ok wäre, wenn seit Jan Philipp Kalla aus dem Jahr 2007 wir nicht über 10 Jahre auf Conteh und Becker hätten warten müssen, bis endlich mal auch ein auf dem Profiniveau gebrauchbarer Spieler aus der eigenen Jugend rauskommt. Moukoko sei hier mal ausgeklammert aber den haben wir eh zu früh an den BVB verloren um mit ihm richtig Kohle zu machen. Apropos Kohle. Viele verteidigen das krass offensive Marketing des Vereins genau damit, dass man ja irgendwie im Profifußball Kohle ranschaffen soll um die Verträge zu bezahlen. Das ist auch richtig. Nur die meisten vergessen dabei, dass man in der Fußballbranche mit nichts auf der Welt besser Kohle verdienen kann als mit sportlichem Erfolg und der ist manchmal auch mit wenig Geld und viel Kreativität erreichbar. In der Bundesliga sind in der jüngeren Vergangenheit auch immer mal Vereine aus wesentlich uninteressanteren Standorten vertreten gewesen (Ingolstadt, Fürth, Darmstadt, Paderborn usw.) die es geschafft haben mit Kontinuität und einer Vision für sportlichen Erfolg zu sorgen. Ganz zu schweigen von eher (selbst aus St. Pauli Sicht) kleineren Bundesligavereinen wie Freiburg, Augsburg oder Mainz die mittlerweile zurecht feste Bestandteile der ersten Liga geworden sind. Auch Vereine in der zweiten Liga wie Holstein Kiel (Kadermarktwert: 19,63 Mio €) , die nach deren Aufstieg in 2017 vor jeder Saison von den vielen zu den Abstiegskandidaten gezählt wurden, haben aus deutlich weniger Geld als der FC (Kadermarktwert: 21,80 Mio €) deutlich mehr gemacht, und sind uns dementsprechend fußballerisch seit Jahren ein gutes Stück voraus.
Es ist genial zu beobachten, dass auch die zwingend notwendigen linken Inhalte in der Gesellschaft immer mehr an Bedeutung gewinnen und man damit Rechtspopulisten in allen Bereichen des Lebens, den Stirn bietet. Welchen Teil dieses Prozesses im Fußball der FC St. Pauli spielt, braucht man nicht zu erklären. Obwohl ich kein Hamburger bin, ist es mir genau deswegen seit 16 Jahren Wert, Hunderte von Kilometern zu so gut wie allen Heimspielen zu fahren und 5-10 Auswärtsspiele pro Jahr zu besuchen. Unsere ist die einzige große Fanszene Deutschlands die nicht durch Pokale, sondern durch die Gleichgesinnung in politischen und gesellschaftlichen Inhalten so groß geworden ist. Das war nie anders und wird hoffentlich auch nie anders sein. Der Fußballverein allerdings sollte ganz besonders in diesen seit Jahren schwierigen sportlichen Zeiten aber langsam mal wieder den 100%-igen Fokus auf den Fußball legen. Und ich möchte mir wegen diesem Wunsch keine “Halt die Fresse“- oder “Du hast St. Pauli nicht verstanden“-Bemerkungen lesen. Denn auch wenn wir uns in vielen Themen vielleicht unterschiedlicher Meinung sind, in eins sind wir uns alle einig. St. Pauli war, ist und bleibt die einzige Möglichkeit. Gestern. Heute. Morgen. Für immer.
1 note · View note