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Mussolini und die provozierenden Bahnwaggons im Hochgebirge
Unter dem italienischen Diktator Mussolini werden am Pass San Giacomo auf rund 2300 Metern über Meer zwei Eisenbahnwagen aufgestellt. Das ist eine gezielte Provokation an der Grenze und führt zu energischen Gegenmassnahmen der Schweiz – ein Blick zurück.
Helmut Stalder14.12.2020, 05.30 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
Zeichen an die Schweiz: Wer Bahnwagen auf den Grenzpass San Giacomo im Hochgebirge bringen kann, kann auch Kanonen und Truppen dort hinaufschaffen.
Die zwölf Betonpfeiler ragen noch heute am San-Giacomo-Pass aus dem Boden. Sogar auf Google Earth sind sie erkennbar, knapp einen Kilometer westlich der Grenze zwischen der Schweiz und Italien etwas unterhalb der 2318 Meter hohen Passhöhe. Sie dienten als Stützen für ein surreales Bauwerk, das jedoch Ausdruck einer sehr realen Bedrohung der Schweiz war.
1930 – mitten in der faschistischen Ära des Diktators Benito Mussolini – verwirklicht der Mailänder Architekt Piero Portaluppi auf der italienischen Seite des Passes ein irrwitziges Projekt. Auf die Pfeiler setzt er einen Speisewagen und einen Schlafwagen, blau gestrichen und ausgestattet mit rotem Samt, goldenen Stuckaturen, Zentralheizung, fliessend Wasser und elektrischem Licht. «Wagristoratore San Giacomo Pescatore» nennt er die bizarre Gaststätte. Nur drei Autostunden von Mailand entfernt, soll sie Alpinisten, Ausflügler und vor allem die verwöhnte Mailänder Oberschicht in ihren Automobilen auf den Pass locken. Portaluppi schwärmt, der «Wagristoratore» liege in einer unberührten Landschaft, «reich an leuchtender Alpenflora, Nadelgehölzen, klaren Bergseen, umgeben von einer Korona von Bergkolossen, deren Gipfel majestätisch in den blauen Himmel emporragen, in einem Szenario vollkommener alpiner Schönheit».
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Der Gotthard in Schussweite
Doch die extravagante Waggonherberge ist nicht bloss ein Spleen eines schwärmerischen Architekten, sondern eine gezielte Provokation mit erheblicher politischer Sprengkraft. So ist es auch kein Zufall, dass der italienische Arbeitsminister Giuseppe Bottai, Mitgründer der faschistischen Partei und Mussolini-Vertrauter der ersten Stunde, die Gaststätte zur Eröffnung im August 1930 mit einem Besuch beehrt. Der Pass ist nämlich eine strategisch bedeutsame Stelle und spielt in den militärischen Dispositionen Italiens eine wichtige Rolle. Das Val d’Ossola liegt wie ein Keil zwischen dem Tessin und dem Wallis. Das nördliche Nebental Val Formazza berührt am San Giacomo fast das Bedrettotal. Nur 14 Kilometer Luftlinie sind es vom Pass bis Airolo und zum Südportal des Gotthard-Bahntunnels. Nirgendwo sonst kommt Italien den Verkehrswegen durch und über den Gotthard so nahe. Und wer Bahnwagen auf den San-Giacomo-Pass bringen kann, der kann auch Truppen und schweres Geschütz dort hinauf transportieren. Der Gotthard liegt in Schussdistanz der italienischen Artillerie.
Ein solches Aufmarschszenario befürchtet die Schweizer Armeeführung seit längerem. Mussolini hat 1921 noch als faschistischer Parlamentsabgeordneter in einer feurigen Rede erklärt, ein «entarteter und verdeutschter Kanton Tessin» könne eine Gefahr für die Sicherheit der Lombardei sein. Die Einheit Italiens sei erst vollendet, wenn das Tessin zu Italien gehöre. Im Jahr darauf, nach seinem «Marsch auf Rom» und der Ernennung zum Staatschef, versichert Mussolini zwar, dass es zwischen der Schweiz und Italien keine Territorialfragen gebe und die Beziehungen «absolut freundschaftlich» seien. Gleichzeitig intensiviert er den Irredentismus (terre irredente = unerlöste Gebiete). Diese vor dem Ersten Weltkrieg entstandene Bewegung sieht sich als Verteidigerin der Italianità in allen italienisch besiedelten Gebieten, strebt den Anschluss der italienischsprachigen Regionen der Schweiz und Österreichs an Italien an und fordert eine Grenzverschiebung an den Alpenhauptkamm, an die «von Gott gewollte Grenze», wie Mussolini sagt.
Handfest werden seine Absichten durch den Strassenbau. Ab 1925 lässt er von Domodossola bis hinauf auf den San-Giacomo-Pass den Fahrweg und weiter oben den Saumweg durch Genietruppen ausbauen. Offiziell dient die 4,5 Meter breite Strasse der touristischen Erschliessung. Aber für die Schweiz ist klar, was dahintersteckt.
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Es handle sich eindeutig um eine Militärstrasse, analysiert die NZZ Anfang November 1926 in zwei langen Berichten. Der San-Giacomo-Pass bilde von Natur aus «das Sprungbrett zum Angriff auf den St. Gotthard». Über die neue Strasse würden Truppen «in beliebiger Zahl, ausgeruht, mit schwerer Artillerie und allem Kriegsbedarf wohlversehen, im Automobil von einer Stunde zur andern aufzutreten im Stande» sein. Schroff weist die NZZ die Aufforderung zurück, die Schweiz solle für den Fremdenverkehr die Nordzufahrt zum Pass ebenfalls ausbauen. «Wenn die San Giacomostrasse auf der Schweizer Seite abgenommen und nach Airolo als Automobilstrasse geführt wird, so können Panzerwagen und Truppenautomobile aus der Umgebung von Domodossola innerhalb einiger Stunden bei Nacht und Nebel Airolo, den Gotthardtunnel und die Gotthardpasshöhe erreichen und sich des Kerns und Stützpunktes unserer Alpenverteidigung versichern, bevor unsererseits ein Mann aufgetrommelt wäre.» Diese Strasse sei ein «Vorstoss gegen das Herz unserer südlichen Landesfront» und bedeute die «Erleichterung eines Überfalls». Als die Strasse im August 1929 eröffnet wird und der Architekt Portaluppi im darauffolgenden Sommer mit dem Transport der Bahnwaggons auf die Passhöhe ihre Leistungsfähigkeit beweist, herrscht in der Schweizer Armeeführung Alarmstimmung.
Kein Zufall: Zur Eröffnung des «Wagristoratore» im August 1930 kam der faschistische Arbeitsminister Giuseppe Bottai (2. v. r.) auf den Pass.
Gotthard-Kanonen für die Südfront
Die Sicherung des San-Giacomo-Passes, wo nur ein Blockhaus als Beobachtungsposten steht, wird zur vordringlichen Aufgabe. Bereits im nächsten Jahr legt der Chef der Gotthard-Genietruppen ein Projekt vor. Gebaut wird ab 1935. Auf dem San-Giacomo-Pass entsteht ein Infanteriebunker mit drei Maschinengewehrständen im Fels, weiter unten das Artilleriefort Grandinagia, von wo aus zwei Kanonen das Val Formazza beschiessen können. Hinzu kommen Maschinengewehrstellungen, Stellungen für mobile Geschütze, Unterstände sowie drei Transportseilbahnen – 30 Objekte insgesamt. Die San-Giacomo-Sperre ist 1939 schussbereit. Zudem wird auf der andern Seite des Bedrettotals eine weitere Stellung mit zwei Kanonen gebaut. Dafür ist es höchste Zeit. Im März des gleichen Jahres erläutert Mussolini im Grossen Faschistenrat seine aussenpolitischen Ziele: «Ich habe meine Augen auf das Tessin gerichtet, weil die Schweiz ihren Zusammenhang verloren hat und eines Tages auseinanderfallen muss wie viele kleine Staaten.»
Vor allem aber führen die provozierenden Bahnwaggons zu einem Schub im Festungsbau am Gotthard selbst. Die aus dem 19. Jahrhundert stammenden Artilleriewerke Forte Airolo und Motta Bartola sowie die Kampfanlagen des Forte Ospizio auf dem Gotthardpass sind veraltet. Nach kurzer Bauzeit, noch vor dem Beschluss zum Bezug des Reduits vom Juli 1940, ist die neue Artilleriefestung Foppa Grande über dem Talkessel von Airolo einsatzbereit. Drei Jahre später ist auf dem Gotthardpass auch die Zentralfestung Sasso da Pigna vollendet. Sie verfügt ab 1944 über vier 15-cm-Kanonen mit 23,5 Kilometern Reichweite. Die Geschütze in Airolo und auf dem Gotthardpass können im Westen ein Gebiet von Ulrichen im Wallis bis Ponte im italienischen Formazzatal wirksam unter Feuer nehmen. Damit ist die Einfallsachse San Giacomo gedeckt.
Zu einem Gefecht kommt es nicht mehr. Auf der Flucht vor den heranrückenden Alliierten wird Mussolini von kommunistischen Partisanen gefasst und am 28. April 1945 in Mezzegra am Comersee erschossen. Am nächsten Tag kapitulieren die deutschen Armeen in Italien.
Was aus den Bahnwagen auf dem San-Giacomo-Pass wurde, ist nicht geklärt. Laut dem Blog Archivio Iconografico del Verbano Cusio Ossola wurden sie während des Krieges vernachlässigt und aufgegeben. Ob Partisanen sie anzündeten, als sie sich in die Schweiz absetzten, oder ob es Faschisten waren, die ihnen den Unterschlupf nehmen wollten, muss offenbleiben. Ebenso die Aussage eines später hohen Schweizer Militärs, der im Speisewagen noch 1948 als kleiner Junge eine warme Milch getrunken haben will. Irgendwann wahrscheinlich in den 1950ern verschwanden die Wagen vom Pass. Nur die rätselhaften Pfeiler zeugen noch davon, dass hier die Eroberung des Tessins vorbereitet wurde.
https://www.nzz.ch/schweiz/diktator-mussolini-provozierte-mit-bahnwaggons-am-san-giacomo-ld.1579275
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Das Stichwort: Die «Panik» hat mit der «Pandemie» eigentlich nichts zu tun – aber die beiden hängen doch zusammen
Ein Meldeläufer, ein Hirtengott und ein Schrecken, den man sich grösser nicht vorstellen kann: Gegen Panik lässt sich wenig machen. Das war schon so, als das Wort noch nicht geläufig war.
Klaus Bartels23.03.2020, 05.30 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
Da scheint er in den Defensive zu sein, der Hirtengott Pan. Aber eigentlich ist er derjenige, der Angst und Schrecken verbreitet.
Die «Pandemie» und die «Panik» sind griechische Landsleute, aber nur Zufallsnachbarn im Fremdwörterbuch. Die Wortgeschichte der «Panik» beginnt weitab jedes «Pan-» im Sinne von «All-» mit dem Vorläufer oder eher Vor-Vorläufer aller Marathonläufer. Das heisst: nicht mit dem fiktiven, der 490 v. Chr. die 42 Kilometer von Marathon nach Athen gelaufen und dort mit dem Ruf «Wir haben gesiegt» tot zusammengebrochen sein soll, sondern mit einem Profi-Expresskurier von Fleisch und Blut namens Pheidippides, der vor der Schlacht mit der Bitte um Beistand die gut 200 Kilometer von Athen nach Sparta in zwei Tagen bewältigt hat und dann – wohl an der hellenistischen Rhetorikschule, im Fach Lobrede – zu dem legendären Siegesboten veredelt worden ist.
Kämpfen gegen die Übermacht
Der Zeitzeuge Herodot berichtet, unterwegs habe Pan, der bocksgestaltige Hirtengott, diesen Pheidippides mit seinem Namen angerufen und ihm eine Botschaft an die Athener aufgetragen: warum sie ihm denn keinerlei Verehrung angedeihen liessen. Er sei ihnen doch wohlgesinnt, sei ihnen doch schon vielfach hilfreich gewesen und werde dies gewiss auch künftig noch sein . . . Als dann bei Marathon für die Athener auch ohne die Spartaner alles so überaus gut gelaufen war, vertrauten sie darauf, dass er in dieser Schlacht der persischen Übermacht seinen fortan berüchtigten Schrecken eingejagt habe, und dankten ihm für seinen Beistand mit dem Bau eines Heiligtums am Fuss der Akropolis und der Stiftung alljährlicher Opfer und eines Fackellaufs.
Von einem «panischen Schrecken» ist bei Herodot so noch nicht die Rede. Als Erster spricht etwas später der Militärschriftsteller Aineias in prägnanter Kürze von einem «páneion», einem «Panischen»; der Schrecken verstand sich da offenbar schon von selbst. Spätere Autoren schreiben anstelle von «páneios» regelmässig «panikós»; sie sprechen von «panischem Schrecken, panischem Lärm, panischer Verwirrung, panischer Flucht» oder wieder einfach von einem «panikón», einem «Panischen». In dieser Prägnanz ist das Wort über ein lateinisches «panicus» in der frühen Neuzeit in die neuen Sprachen eingegangen, zunächst als ein «terreur panique», dann auch als «panique», «Panik».
Seit dem 4. Jahrhundert v. Chr. wissen die griechischen Geschichtsschreiber vielfach von solcher «Panik» zu berichten. Pausanias, der griechische Baedeker, schildert den «Schrecken des Pan», der im frühen 3. Jahrhundert v. Chr. die in Nordgriechenland wütenden Galater befiel: In dem Wahn, griechische Waffen zu sehen, griechische Laute zu hören, hätten sich die Galater in einem nächtlichen Gemetzel zu Tausenden wechselseitig abgeschlachtet.
Waffenlärm und Flötenklang
Wahrscheinlich hat am ehesten Plutarch mit seiner vielgelesenen Cäsar-Biografie dazu beigetragen, den «panischen Schrecken» auch uns Späteren noch in die Glieder fahren zu lassen: Er berichtet, im Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompeius sei am Morgen der Entscheidungsschlacht bei Pharsalos im Heerlager des Pompeius eine «panische Verwirrung» ausgebrochen. Da hatte diese Bocksgestalt mit Bocksgehörn und Bocksfüssen wieder einmal, wie damals bei Marathon, die Weltgeschichte nach seiner Panflöte tanzen lassen.
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Aber wie soll ein arkadischer Hirtengott ganze Heere in Verwirrung stürzen oder einem solchen Schrecken auch nur seinen Namen geben können? Wie verträgt sich der klirrende Waffenlärm von Marathon und Pharsalos mit dem Klang der Panflöte und friedlichen, ländlichen Hirtenliedern? Das weiss nur dieser Pan allein. Und jetzt, angesichts der globalen Pandemie, nur keine globale Panik! Wer weiss – vielleicht wird dieser rätselhafte Hirtengott sich ja zu guter Letzt auf unsere Seite schlagen und nicht uns eine Panik, sondern den Legionen des Coronavirus auf Nimmerwiedersehen seinen «Panischen» einjagen?
https://www.nzz.ch/feuilleton/das-stichwort-was-hat-die-panik-mit-der-pandemie-zu-tun-ld.1546357
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Seit dem Brexit-Votum begreift man England nicht mehr. Steckt Wahnsinn dahinter – oder doch Methode?
Über Jahrhunderte spielte England weltweit eine Führungsrolle. Dazu scheint die neue Tendenz zur Selbstisolation nicht zu passen. Aber die Geistesgeschichte des Landes erklärt einiges.
Hans-Dieter Gelfert44 Kommentare28.11.2020, 05.30 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
Dem Machtanspruch des Monarchen setzte England schon früh das Parlament als ausgleichende Kraft entgegen. Die Radierung aus dem frühen 17. Jahrhundert zeigt eine Parlamentssitzung zur Zeit von König James I.
Neben dem Humor gilt den Briten ihr Common Sense als zweite Nationaltugend. Ihm mag es zu verdanken sein, dass das Land unter den grossen europäischen Nationen historisch die eindrucksvollste Erfolgsbilanz aufzuweisen hat. Dennoch wird es in naher Zukunft seine grösste politische Torheit besiegeln und sich endgültig von der EU verabschieden. So jedenfalls sehen es die Kontinentaleuropäer.
Wenn Rationalität das spezifische Merkmal des menschlichen Bewusstseins ist, sollte man annehmen, dass sie in allen Menschen gleich ist. Für die logische Grundstruktur des Denkens mag das zutreffen. Doch ein rein logisches Denken gibt es allenfalls in der Wissenschaft. Im übrigen Leben ist das Denken durch Glaubensinhalte, Gefühle und Interessen so «verunreinigt», dass am Ende jeder Mensch seine eigene Art zu denken hat.
Das Denken verzweigt sich
Das gilt ebenso für ganze Völker. Vor der Ausbildung der europäischen Nationalstaaten standen die berufsmässigen Denker noch über die Landesgrenzen hinaus in engem Kontakt. Es waren philosophierende Theologen, für die nach dem Gebot der Kirche die Philosophie die «Magd der Theologie» war. Als sich dann aber nach der Reformation das Denken aus der Bevormundung durch kirchliche Dogmen löste und gleichzeitig die Nationalstaaten ein eigenes kulturelles Selbstverständnis ausbildeten, entwickelten sich auch im Denken unterschiedliche Präferenzen.
Zu den Ersten, die sich vom Primat des Offenbarungsglaubens lösten und die Vernunft als entscheidende Erkenntnisquelle ansahen, zählt der Franzose René Descartes. Er glaubte, dass der vernunftbegabte Mensch «angeborene Ideen» in sich habe, die das denkende Bewusstsein quasi mathematisch aus sich heraus deduzieren könne. Die Gegenposition vertrat etwas später der Engländer John Locke, der meinte, dass das Bewusstsein jedes Menschen bei seiner Geburt eine leere Schrifttafel sei, die erst durch die Sinneswahrnehmungen mit Erfahrung beschrieben werde.
Auf die philosophischen Finessen dieser beiden Positionen braucht hier nicht eingegangen zu werden. Es soll nur um die Frage gehen, weshalb der cartesianische Ansatz unter dem Begriff Rationalismus auf dem Kontinent von grossen Philosophen wie Baruch Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz aufgenommen und zur vorherrschenden Erkenntnistheorie weiterentwickelt wurde, während in England Lockes Ansatz unter der Bezeichnung Empirismus von David Hume radikalisiert wurde und bis heute als die spezifische Denkweise englischer Philosophen gilt.
Hierarchie und Horizontale
Descartes’ Denkmodell ist strikt hierarchisch. Es sieht in der Vernunft eine Pyramide, an deren Spitze die erste, unmittelbare Evidenz steht: das «Cogito ergo sum» – «Ich denke, also bin ich». An dieser Evidenz misst Descartes alle weiteren logischen Ableitungen aus der Vernunft und sortiert sie nach ihrer «Klarheit». Alles, was die denkende Vernunft «clare et distincte», «klar und deutlich», in sich vorfindet, müsse so wahr sein wie die allererste Evidenz. Die Ableitungspyramide geht von der Spitze bis hinunter in die trüben und dunklen Bereiche der sinnlichen Wahrnehmungen, die von wechselnden Zuständen einer Aussenwelt abhängig sind, von der man nicht einmal mit Sicherheit weiss, ob sie überhaupt existiert und nicht bloss eingebildet ist.
Bei Locke dagegen ist das Bewusstsein eine leere Schrifttafel, die erst durch die Sinneswahrnehmungen beschrieben wird. Der Verstand kann diese Wahrnehmungen nur sortieren. Hat man diese beiden Bilder vor Augen – die cartesianische Pyramide und Lockes Schrifttafel –, dann liegt die Vermutung nahe, dass sich darin die unterschiedlichen politisch-sozialen Strukturen der Heimatländer dieser Philosophen widerspiegeln.
Descartes’ Frankreich war eine streng hierarchisch organisierte absolutistische Monarchie, Lockes England hatte sich ein Jahr vor Erscheinen seines den Empirismus begründenden Buches «An Essay Concerning Human Understanding» (1690; dt. «Ein Essay über den menschlichen Verstand») durch die Glorreiche Revolution in eine konstitutionelle Monarchie verwandelt, was eine Nivellierung der königlichen Autorität bedeutete. Der Rationalismus blieb auf dem Kontinent bis zur Französischen Revolution die vorherrschende Philosophie und ging in Deutschland in einen ebenso vertikalen vernunftbegründeten Idealismus über.
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Auf der anderen Seite des Kanals wurde die englische Monarchie von einem Parlament regiert, in dem sich zwei grosse Parteien, die liberalen Whigs und die konservativen Tories, die Waage hielten. Sowohl diese beiden Parteien als auch das Parlament selbst in seinem Verhältnis zur Krone stellen eine horizontale Beziehung dar, in der beide Seiten voneinander abhängig sind. Das entspricht dem Verhältnis von Sinneswahrnehmung und Verstand in Lockes Modell.
Im Geist des Kompromisses
Sicher mutet es etwas voreilig an, in der strukturellen Homologie zwischen Denkform und Staatsform einen kausalen Zusammenhang zu sehen, zumal die Engländer dann binnen eines einzigen Jahres ihre Vorliebe für den Empirismus entdeckt haben müssten. Schaut man sich die englische Kulturgeschichte aber genauer an, zeigt sich, dass der politische Wandel einen langen Vorlauf hatte. Das Parlament hatte bereits 1295 unter Eduard I. eine Zusammensetzung erlangt, in der alle relevanten Gruppen – Hochadel, Kirche, niederer Adel und die Vertreter der Städte – repräsentiert waren, woran sich bis zum ersten grossen Reformgesetz von 1832 nur wenig ändern sollte. Die Glorreiche Revolution hatte damit eine Vorgeschichte von vier Jahrhunderten.
Aber auch das empiristische Denken begann nicht erst mit Locke. Eine Generation früher wurde es schon von Thomas Hobbes praktiziert, und erste Ansätze sind bereits bei Roger Bacon zu erkennen, einem Franziskanermönch, der just in dem Jahrhundert lebte und wirkte, in dem die Horizontalisierung des englischen Machtgefüges mit der Magna Charta von 1215 ihren Anfang nahm und 1295 mit dem sogenannten «model parliament» eine feste Form fand.
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Von da an gab es in England mit dem Parlament eine Institution, die mehr und mehr zur Mittelachse im Kräftespiel zwischen Volk und Krone wurde. Während in den anderen europäischen Nationen die grossen Umwälzungen entweder von oben oder vom rebellischen Volk ausgingen, war in England fast immer das Parlament der Ort für solche Anstösse. Es ist der Ort, an dem gegensätzliche Interessen durch einen Kompromiss zum Ausgleich gebracht werden.
Das gesamte englische Gemeinwesen hat etwas Kompromisslerisches: Die anglikanische Staatskirche ist ein Kompromiss zwischen Protestantismus und Katholizismus, die englische Staatsform ein solcher zwischen Republik und Monarchie und die Gesellschaft im Ganzen einer zwischen egalitärem Bürgertum und den Privilegien der heute noch bestehenden Aristokratie.
Das Einzelne und das Ganze
Dass sich im Denken der Menschen ihre soziale Realität widerspiegelt, liegt auf der Hand. Es wäre seltsam, wenn dem nicht so wäre. Beide Sphären haben mit dem Verhältnis des Einzelnen zum Ganzen zu tun: In der sozialen Sphäre geht es um das Verhältnis des Bürgers zum Staat, in der kognitiven um das Verhältnis zwischen dem Einzelding und dem Gattungsbegriff. Entscheidend ist dabei, von welcher der beiden Seiten das Denken ausgeht.
Für den kontinentalen Rationalismus und den späteren deutschen Idealismus galt immer der Primat des Ganzen. Totalität ist ein Zentralbegriff der deutschen Philosophie. Im Denken der Briten spielt er kaum eine Rolle. Ihr Empirismus geht grundsätzlich vom individuellen Einzelfall aus. Das zeigt sich in allen Bereichen des gesellschaftlichen wie des privaten Lebens.
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So besteht der grösste Teil des britischen Rechts aus Präzedenzfällen, die die Rechtskraft von Gesetzen haben; und noch heute ist das britische Recht ein «case law», das von Fall zu Fall im Lichte früherer Entscheidungen urteilt, statt sich an systematischen Rechtsnormen zu orientieren. Selbst bei etwas so Alltäglichem wie der Sicherung elektrischer Stromkreise im Haushalt ziehen Engländer es vor, jede Steckdose einzeln statt alle über einen zentralen Sicherungskasten zu sichern.
Im Widerstreit zwischen dem Teil und dem Ganzen neigte das Denken der Briten immer zur Seite des Teils. Das kommt auch in ihrem Humor zum Ausdruck, der grundsätzlich auf der Seite des Störers der Ordnung ist. Wir Deutschen lachen lieber mit der Ordnung gegen den Störer. Nirgendwo zeigt sich das deutlicher als im Karneval, wenn die Menge gemütlich schunkelt und ihren Spott auf die vorbeiziehenden Figuren auf den Wagen ausgiesst.
Zünglein ohne Waage
Jahrhundertelang sind die Engländer mit ihrem autoritätsfeindlichen Individualismus gut gefahren. Vielleicht hat er dazu beigetragen, dass sie unter den grossen europäischen Nationen bei vielem die Ersten waren. Sie hatten als Erste ein Parlament, als Erste eine sich emanzipierende Mittelschicht, als Erste eine konstitutionelle Monarchie und als Erste eine industrielle Revolution. Hätte es den Buchdruck hundert Jahre früher gegeben, wäre vielleicht auch die Reformation hundert Jahre vor Luther durch Wyclif von England aus angestossen worden.
Doch zurzeit sieht es eher so aus, als würde die einstige Vorhut der europäischen Geschichte durch ihren bockigen Austritt aus der EU zur Nachhut, die den Zug der Zeit verpasst hat. Liberaler Individualismus scheint nicht mehr in die weltpolitische Landschaft zu passen. In der Konkurrenz mit Grossmächten wie China und den USA ist das Vereinigte Königreich nur ein Leichtgewicht und sieht sich zudem noch unter dem Damoklesschwert der drohenden Trennung von Schottland, die den Niedergang endgültig machen würde.
Wer die Engländer vor dem Brexit noch um ihren pragmatischen, zuweilen geradezu zynischen Common Sense beneidete, sieht jetzt dessen Kehrseite. Es ist eben doch ein Unterschied, ob eine Nation in Europa geschickt die Rolle des Züngleins an der Waage spielt oder ob sich das Zünglein von der Waage löst und glaubt, mit den Schwergewichten der Weltwirtschaft allein auf Augenhöhe umgehen zu können. Auch wenn die EU sich noch für lange Zeit mit nationalen Eifersüchteleien selbst lähmen wird, hätten die Briten als zweitgrösste Wirtschaftsmacht innerhalb dieser Vereinigung sicher bessere Karten als in der Rolle des Davids gegen den Rest der Welt.
Fast nur Nachteile
Die Entscheidung für den Brexit hat jedenfalls die Mehrheit der Kontinentaleuropäer am Common Sense der Briten zweifeln lassen. Sieht man einmal von den Hochseefischern ab, dürfte kaum eine Branche einen Vorteil davon haben. Als Industrienation wäre das Vereinigte Königreich nur mit niedrigen Löhnen konkurrenzfähig; als das Singapur an der Themse wird es sich weiter in Reich und Arm aufspalten. All dies nicht vorausgesehen zu haben, zeugt von einer politischen Unreife, die man von den Briten am allerwenigsten erwartet hätte.
Vielleicht hätten sie sich einmal daran erinnern sollen, dass die Eroberung durch die Normannen, die später als «normannisches Joch» stigmatisiert wurde, der grösste Glücksfall ihrer Geschichte war. Hätte Wilhelm I. die Insel nicht erobert und ihr mit brutaler Gewalt einen Einheitsstaat aufgezwungen, hätten die Angelsachsen vielleicht den gleichen Partikularismus entfaltet wie die deutschen Stämme. Schliesslich gab es in Britannien vor der Eroberung zeitweilig sieben Königreiche. Das Ganze hat eben doch etwas für sich, zumal dann, wenn es ein grosses ist.
Hans-Dieter Gelfert war Professor für englische Literatur und Landeskunde an der FU Berlin. Seit seiner Emeritierung schreibt er als freier Autor über literarische und kulturgeschichtliche Themen.
https://www.nzz.ch/feuilleton/ist-der-brexit-wahnsinn-oder-hat-er-methode-ld.1578308
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Niedergebranntes Haus in Felton, Kalifornien, 20. August 2020
Die Zivilisation wird nicht mehr dieselbe gewesen sein: Was es bedeutet, Zeugnis von unserer maskierten Gegenwart abzulegen
Unser Haus stehe in Flammen, schreibt Giorgio Agamben. Was ist in einem solchen Fall für dessen Bewohner zu tun?
Giorgio Agamben28.10.2020, 05.30 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
Wenn die Welt brennt: Selbst in Trümmern schlummert Poesie. (Niedergebranntes Haus in Felton, Kalifornien, 20. August 2020)
«Was ich auch tue, es hat keinen Sinn, wenn das Haus in Flammen steht.» Hat Greta Thunberg gesagt. Doch gerade wenn das Haus brennt, muss man weitermachen wie immer, alles sorgsam und genau tun, vielleicht noch gewissenhafter – selbst wenn niemand es bemerken sollte. Mag sein, das Leben verschwindet von der Erde, keine Erinnerung bleibt an das, was getan worden ist, im Guten wie im Bösen. Du aber mach weiter wie zuvor. Zu spät, etwas zu ändern, es bleibt keine Zeit.
«Was um dich passiert / geht dich nichts mehr an.» So heisst es in einem Gedicht von Nina Cassian. Wie die Geografie eines Landes, das du für immer verlassen musst. Doch wie betrifft dich das noch? Gerade jetzt, wo es nicht mehr deine Sache ist, wo alles vorbei zu sein scheint, tritt jedes Ding und jeder Ort in seiner wahrsten Gestalt hervor, berühren sie dich irgendwie näher – wie sie sind: Glanz und Elend.
Philosophie, eine tote Sprache? Giovanni Pascoli schreibt: «Die Sprache der Dichter ist immer eine tote Sprache ... darauf bedacht, sich auszusprechen: eine tote Sprache, die man nutzt, um dem Gedanken mehr Leben zu geben.» Vielleicht keine tote Sprache, sondern eher ein Dialekt. Philosophie und Poesie sprechen in einer Sprache, die weniger als Sprache ist, und das bemisst ihren Rang, ihre besondere Vitalität. Die Welt erwägen, beurteilen, im Masse eines Dialekts, einer toten Sprache, und doch lebendig sprudelnd, wo kein einziges Komma zu ändern ist. Sprich weiter diesen Dialekt, jetzt, wo das Haus in Flammen steht.
Panik und Schurkerei
Welches Haus steht in Flammen? Das Land, in dem du lebst? Europa? Die ganze Welt? Vielleicht sind die Häuser, die Städte bereits niedergebrannt, wir wissen nicht, seit wann, in einem einzigen unermesslichen Feuer, das wir angeblich nicht sahen. Davon geblieben sind nur Mauerreste, eine Wand mit Fresken, ein Stückchen Dach, Namen, sehr viele Namen, bereits vom Feuer angegriffen.
Wir aber überdecken sie sorgfältig mit weissem Gips und verlogenen Worten, so dass sie unversehrt scheinen. Wir leben in Häusern, in Städten, verbrannt von oben bis unten, als stünden sie noch. Die Leute tun so, als lebten sie dort, und gehen maskiert zwischen den Ruinen durch die Strassen, als seien es noch die vertrauten Viertel von einst. Nun hat die Flamme Gestalt und Natur verändert, ist digital geworden, unsichtbar und kalt, doch gerade deshalb noch näher, sie rückt uns auf den Leib und umgibt uns in jedem Moment.
Eine Zivilisation, eine Barbarei, versinkt, um sich nicht mehr zu erheben – das ist bereits geschehen, und Historiker sind geübt, Brüche und Schiffbrüche zu bezeichnen und zu datieren. Wie aber Zeugnis ablegen von einer Welt, die mit verbundenen Augen und bedecktem Angesicht untergeht? Von einer Republik, die ohne Einsicht und Stolz, in Niedertracht und Angst zusammenbricht? Die Blindheit ist umso aussichtsloser, als die Schiffbrüchigen behaupten, ihr eigenes Wrack zu beherrschen. Wie sie schwören, kann alles technisch unter Kontrolle gehalten werden, braucht es keinen neuen Gott und keinen neuen Himmel – nur Verbote, Experten und Ärzte. Panik und Schurkerei.
Was wäre ein Gott, an den sich weder Gebete noch Opfer richten? Und was wäre ein Gesetz, das weder Befehl noch Ausführung kennt? Und was ist ein Wort, das nicht bezeichnet oder anordnet, sondern sich wirklich im Anfang hält – ja sogar noch davor?
Mobilisierung und Trennung
Eine Kultur, die sich am Ende weiss, ohne jegliches Leben, sucht ihren Ruin durch einen permanenten Ausnahmezustand so weit wie möglich zu beherrschen. Die totale Mobilmachung, in der Ernst Jünger den Wesenszug unserer Zeit sah, ist in dieser Perspektive zu sehen. Die Menschen müssen mobilisiert werden, sie müssen sich jeden Moment im Notstand fühlen, der bis in kleinste Einzelheiten von denen geregelt ist, die über die Entscheidungsmacht verfügen. Während früher die Mobilmachung das Ziel hatte, die Menschen einander näherzubringen, zielt sie jetzt darauf ab, sie voneinander zu isolieren und zu distanzieren.
Seit wann steht das Haus in Flammen? Seit wann ist es niedergebrannt? Vor einem Jahrhundert, zwischen 1914 und 1918, geschah in Europa sicherlich etwas, das alles scheinbar Unversehrte und Lebendige in die Flammen und in den Wahnsinn warf; dreissig Jahre später loderte dann das Feuer überall neu auf und brennt seither unablässig, unerbittlich, sachte, kaum sichtbar unter der Asche. Vielleicht hatte das Feuer jedoch schon viel früher begonnen, als der blinde Drang der Menschheit nach Heil und Fortschritt sich mit der Kraft von Feuer und Maschinen verband.
All dies ist bekannt und braucht nicht wiederholt zu werden. Eher muss man sich fragen: Wie konnten wir weiterleben und denken, während alles in Flammen stand? Was blieb inmitten des Brandes oder an seinen Rändern irgendwie unversehrt? Wie vermochten wir inmitten der Flammen zu atmen? Was haben wir verloren, und an welches Wrack – oder welchen Betrug – haben wir uns geklammert? Jetzt, da es keine Flammen mehr gibt, sondern nur noch Zahlen, Ziffern und Lügen, sind wir sicherlich schwächer und einsamer, doch ohne mögliche Kompromisse, so nüchtern wie nie zuvor.
Wenn erst im brennenden Haus das grundlegende architektonische Problem sichtbar wird, dann ist jetzt zu sehen, was im Fall des Westens auf dem Spiel steht, was er um jeden Preis ergreifen wollte und warum er nur scheitern konnte.
Die Macht und das Leben
Es ist, als hätte die Macht um jeden Preis versucht, das nackte Leben, das sie hervorgebracht hat, zu erfassen, doch trotz aller Mühe, sich dieses Leben anzueignen und es mit allen möglichen Vorkehrungen zu kontrollieren – polizeilich, medizinisch und technologisch –, es konnte sich nur entziehen, weil es per definitionem unfassbar ist. Das nackte Leben zu regieren, ist der Wahnsinn unserer Zeit. Menschen, reduziert auf ihre rein biologische Existenz, sind nicht mehr menschlich, die Regierung von Menschen und die Regierung von Sachen fallen zusammen.
Das andere Haus, das ich niemals werde bewohnen können, das aber mein wahres Zuhause ist; das andere Leben, das ich nicht gelebt habe, während ich es zu leben meinte; die andere Sprache, die ich Silbe für Silbe buchstabierte, ohne sie jemals mit Erfolg zu sprechen – so sehr mein, dass ich sie niemals werde besitzen können.
Wenn Denken und Sprechen sich trennen, meint man sprechen zu können, und vergisst dabei, was man gesagt hat. Während Poesie und Philosophie etwas sagen, vergessen sie das Gesagte nicht, sie erinnern sich an das Sprechen. Wenn wir uns an das Sprechen erinnern und unsere Fähigkeit zu sprechen nicht vergessen, dann sind wir freier, nicht gezwungen zu Dingen und Regeln. Das Sprechen ist kein Instrument, es ist unser Angesicht, das Offene unseres Seins.
Das Angesicht macht zuhöchst unser Menschsein aus, der Mensch hat ein Angesicht, nicht nur ein Maul oder eine Miene, weil er im Offenen wohnt, weil er sich in seinem Angesicht aussetzt und mitteilt. Deshalb ist das Angesicht der Ort der Politik. Unsere unpolitische Zeit will ihr eigenes Angesicht nicht sehen, sie hält es auf Distanz, maskiert und verdeckt es. Es darf kein Angesicht mehr geben, nur Zahlen und Ziffern. Selbst der Tyrann ist ohne Angesicht.
Sich am Leben fühlen: von der eigenen Empfindsamkeit betroffen sein, sich feinfühlig der eigenen Geste hingeben, ohne sie annehmen oder vermeiden zu können. Mich am Leben zu fühlen, ermöglicht mir das Leben, wäre ich auch eingesperrt in einen Käfig. Nichts ist so real wie diese Möglichkeit.
Geist und Heil
In den kommenden Jahren wird es nur noch Mönche und Schurken geben. Und doch ist es nicht möglich, einfach auszuweichen in der Meinung, man könne heraustreten aus den Trümmern der Welt, die ringsherum eingestürzt ist. Weil der Einsturz uns betrifft und angeht, sind auch wir nur Teil dieser Trümmer. Und wir müssen behutsam lernen, sie unbemerkt richtig einzusetzen.
Alt werden: nur in den Wurzeln wachsen, nicht mehr in den Zweigen. Sich in die Wurzeln vertiefen, ohne Blüten und Blätter. Oder eher wie ein trunkener Schmetterling, der über das Erlebte hinwegflattert. Es gibt immer noch Äste und Blumen im Vergangenen. Und immer noch lässt sich Honig daraus machen.
Das Gesicht ist in Gott, doch die Gebeine sind Atheisten. Draussen drängt uns alles zu Gott; drinnen der hartnäckige, spöttische Atheismus des Skeletts.
Seele und Leib, untrennbar miteinander verbunden – das ist geistig. Der Geist ist nicht ein Drittes zwischen Seele und Leib; er ist nur ihr wehrloser, wunderbarer Zusammenfall. Biologisches Leben ist eine Abstraktion, und es ist diese Abstraktion, die beansprucht zu regieren und zu heilen.
Für uns allein kann es kein Heil geben: Es gibt Heil, weil es andere gibt. Nicht weil ich aus moralischen Gründen zu ihrem Wohl handeln sollte. Nur weil ich nicht allein bin, gibt es Heil: Ich kann mich nur als einer unter vielen retten, als anderer unter anderen. Allein – das ist die eigentümliche Wahrheit der Einsamkeit – brauche ich kein Heil, vielmehr bin ich eigentlich nicht zu retten. Die Dimension des Heils eröffnet sich, weil ich nicht allein bin, weil es Vielheit und Vielzahl gibt.
Als Gott Fleisch wurde, hat er aufgehört, einzig zu sein, er wurde ein Mensch unter vielen. Aus diesem Grund musste sich das Christentum an die Geschichte binden und deren Geschicken bis ans Ende folgen – und wenn die Geschichte, wie es heute offenbar geschieht, verlöscht und verfällt, nähert sich auch das Christentum seinem Niedergang. In unheilbarem Widerspruch suchte es das Heil in der Geschichte und mittels der Geschichte, und wenn die Geschichte zu Ende geht, fehlt ihm der Boden unter den Füssen. Eigentlich war die Kirche solidarisch nicht mit dem Heil, sondern mit der Heilsgeschichte, und weil sie das Heil («salvezza») mittels der Geschichte suchte, konnte sie nur in der Gesundheit («salute») enden. Als die Zeit gekommen war, zögerte sie nicht, der Gesundheit das Heil zu opfern.
Es gilt, das Heil seinem historischen Kontext zu entreissen, eine nichthistorische Vielheit zu finden, eine Vielheit als Ausweg aus der Geschichte. Einen Ort oder eine Situation verlassen, ohne andere Gebiete zu betreten, eine Identität und einen Namen ablegen, ohne andere anzunehmen.
In Richtung auf die Gegenwart kann man nur zurückschreiten, während man in der Vergangenheit geradeaus vorangeht. Was wir Vergangenheit nennen, ist nichts als unser langer Rückzug hin zur Gegenwart. Uns von unserer Vergangenheit zu trennen, ist die erste Ressource der Macht.
Der Himmel und das Haus
Was uns von der Last befreit, ist der Atem. Im Atem haben wir kein Gewicht mehr, wir werden wie im Flug über die Schwerkraft erhoben.
Wir werden wieder lernen müssen zu urteilen, doch mit einem Urteil, das weder bestraft noch belohnt, weder freispricht noch verurteilt. Eine Handlung ohne Zweck, die jeder unvermeidlich ungerechten und falschen Zweckbestimmung die Existenz entzieht. Nur eine Unterbrechung, ein Augenblick auf der Schwelle zwischen Zeit und Ewigkeit, in dem das Bild eines Lebens ohne Zielsetzung und Pläne, ohne Namen und Erinnerung aufleuchtet – dadurch rettend, nicht in der Ewigkeit, sondern in einer Art von Ewigkeit. Ein Urteil ohne vorgefasste Kriterien und doch eben deshalb politisch, weil es das Leben seiner Natürlichkeit zurückgibt.
Spüren und sich fühlen, Empfindung und Selbstbejahung gehen Hand in Hand. In jedem Gefühl gibt es ein Selbstgefühl, in jedem Selbstgefühl ein Gefühl vom anderen, eine Freundschaft und ein Angesicht.
Die Wirklichkeit ist der Schleier, durch den wir wahrnehmen, was möglich ist, was wir tun oder nicht tun können.
Welche unserer Kindheitswünsche haben sich erfüllt? Das zu wissen, ist nicht einfach. Und vor allem: Reicht der Teil des Erfüllten, der an das Unerfüllte grenzt, aus, um uns zum Weiterleben zu bewegen? Man fürchtet sich vor dem Tod, weil der Anteil der unerfüllten Wünsche über alle Massen angewachsen ist.
«Büffel und Pferde haben vier Beine: Das nenne ich Himmel. Den Pferden das Halfter anlegen, den Büffeln die Nasenlöcher durchbohren: Das nenne ich menschlich. Deshalb sage ich: Achtung, damit das Menschliche nicht den Himmel in dir zerstört; Achtung, damit die Absicht nicht das Himmlische zerstört.»
Was bleibt, wenn das Haus in Flammen steht, ist die Sprache. Nicht die Sprache, sondern die unvordenklichen, prähistorischen, schwachen Kräfte, die sie hüten und in Erinnerung halten, Philosophie und Poesie. Und was hüten sie, was von der Sprache halten sie in Erinnerung? Nicht diesen oder jenen bedeutsamen Satz, nicht diesen oder jenen Artikel des Glaubens oder Irrglaubens. Vielmehr die Tatsache selbst: Es gibt das Sprechen, und ohne Namen sind wir offen im Namen, und in diesem Offenen, in einer Geste, einem Angesicht, sind wir unerkennbar und ausgesetzt.
Poesie, das Wort ist das Einzige, was uns geblieben ist aus der Zeit, als wir noch nicht sprechen konnten, ein dunkler Gesang innerhalb der Sprache, ein Dialekt oder Idiom, das wir nicht voll verstehen können, und doch können wir nicht anders, als ihm zu lauschen – auch wenn das Haus in Flammen steht, auch wenn die Menschen in ihrer brennenden Sprache weiterhin daherreden.
Gibt es denn eine Sprache der Philosophie, so wie es eine Sprache der Poesie gibt? Wie die Poesie wohnt die Philosophie ganz im Sprechen, und nur die Art dieser Bleibe unterscheidet sie von der Poesie. Zwei Spannungen auf dem Boden der Sprache, die sich an einem Punkt überschneiden und sich dann unweigerlich trennen. Und wer ein rechtes Wort sagt, ein einfaches, quellfrisches Wort, wohnt in dieser Spannung.
Das Haus steht in Flammen. Wer das bemerkt, kann sich veranlasst sehen, seine Mitmenschen, die das nicht zu bemerken scheinen, verachtungsvoll und geringschätzig zu betrachten. Doch werden es nicht gerade diese Menschen sein, die nicht die Lemuren sehen und bedenken, vor denen du am Jüngsten Tag Rechenschaft ablegen musst? Das Haus steht in Flammen. Das zu merken, erhebt dich nicht über die anderen: Im Gegenteil, mit ihnen wirst du einen letzten Blick tauschen müssen, wenn die Flammen näher kommen. Was kannst du anführen, um dein anmassendes Gewissen gegenüber diesen Menschen zu rechtfertigen, die in ihrer Ahnungslosigkeit fast unschuldig erscheinen?
In dem brennenden Haus – mach weiter wie zuvor, ohne übersehen zu können, was die Flammen dir jetzt unverhüllt zeigen. Etwas hat sich verändert, nicht in dem, was du tust, sondern in der Weise, wie du es in die Welt entlässt. Ein Gedicht, im brennenden Haus geschrieben, ist rechter und wahrer, weil niemand es künftig anhören kann, weil nichts dafür sorgt, wie es den Flammen entkommt. Findet es aber zufällig einen Leser, dann kann dieser sich auf keine Weise dem Anruf entziehen, der ihn aus der wehrlosen, unerklärlichen, sachten Stimme erreicht.
Die Wahrheit sagen kann nur derjenige, der keine Aussicht auf Gehör hat, nur derjenige, der aus einem Haus spricht, das die Flammen um ihn herum unerbittlich verzehren.
Der Mensch verschwindet heute wie ein Gesicht aus Sand, das die Welle am Ufer getilgt hat. Das jedoch, was an seine Stelle tritt, hat keine Welt mehr, es ist nur ein nacktes, stummes Leben ohne Geschichte, ausgeliefert den Berechnungen von Macht und Wissenschaft. Vielleicht kann nur aus diesem Verderben heraus eines Tages langsam oder plötzlich etwas anderes auftauchen – nicht ein Gott, gewiss, doch auch kein anderer Mensch –, ein neues Lebewesen vielleicht, eine auf andere Weise lebendige Seele.
Giorgio Agamben ist Philosoph. Zuletzt sind vom ihm die Werke «Der Gebrauch der Körper» (2020) und «Was ist Philosophie?» (2018) erschienen, beide im Fischer-Verlag. – Der obenstehende Beitrag wurde von Barbara Hallensleben aus dem Italienischen übersetzt.
https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-und-corona-zeugnis-ablegen-von-unserer-gegenwart-ld.1583059
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abvent · 3 years
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Die letzte Fotografie von John Lennon. Der Fotograf Paul Goresh hat das Treffen des Stars und seines Mörders Mark David Chapman (rechts) zufällig festgehalten.
Der Fan wollte von John Lennon ein Autogramm. Stunden später hat er ihn erschossen
Mark David Chapman war lange ein Beatles-Fan. Mit der Zeit steigerte er sich jedoch in einen Hass gegen die Welt. Vor vierzig Jahren erschoss er sein Idol, um selber berühmt zu werden.
Ueli Bernays08.12.2020, 05.30 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
Die letzte Fotografie von John Lennon. Der Fotograf Paul Goresh hat das Treffen des Stars und seines Mörders Mark David Chapman (rechts) zufällig festgehalten.
Am späten Nachmittag des 8. Dezember 1980 treffen John Lennon und Mark David Chapman in Manhattan vor dem Dakota Building zum ersten Mal aufeinander – der Rockstar und sein Fan, sein Feind.
Im Dakota Building in der Upper Westside hat Roman Polanski einst den Horrorklassiker «Rosemary’s Baby» gedreht. Die pittoreske Immobilie ist aber vor allem für die Prominenz ihrer Bewohner berühmt, zu denen seit 1973 auch der Ex-Beatle und seine Frau Yoko Ono zählen.
Gerade sind sie durch den Hof auf die Strasse hinausgetreten, wo sie von einer Schar enthusiastischer Touristen gestellt werden. Die beiden sind sich das gewohnt. Seit sie hier wohnen, erweist sich das Dakota Building als Magnet für Beatles-Nostalgiker und Lennon-Fans. Der Künstler aber fühlt sich im Allgemeinen wohl in New York, wo er von der Öffentlichkeit weniger bedrängt wird als in Grossbritannien.
Danke, John!
Freundlich erfüllt Lennon den Wunsch eines etwas dicklichen Mannes Mitte zwanzig, der ihm «Double Fantasy», das neue Album von John Lennon und Yoko Ono, entgegenstreckt und um ein Autogramm bittet. «Ist das alles, was du willst?», fragt der Rockstar. «Danke, John», antwortet Mark David Chapman, während sich in seinem aufgeschwemmten, von einer übergrossen Pilotenbrille markierten Gesicht ein Lächeln breitmacht.
Die Fans verlieren sich wieder in alle Richtungen. Vor dem Dakota Building bleibt neben dem Türsteher einzig Mark David Chapman zurück. Er will hier ausharren an diesem kühlen Dezemberabend. Wie eine stolze Beute hält er das signierte Album unter den Armen. Zufrieden ist er damit jedoch nicht. Eine diabolische Mission hat ihn schon im November von Hawaii, wo der gebürtige Texaner seit einigen Jahren lebt, in den Big Apple getrieben. Seit drei Tagen streunt er nun um das Dakota-Gebäude herum. Und während in der Jackentasche eine 38er Smith and Wesson schlummert, kreist im Kopf ein Zwangsgedanke: Ich muss John Lennon erschiessen.
Mark Chapman, 1955 in Fort Worth, Texas, geboren, wurde zum Beatles-Fan, als er im Alter von acht Jahren die Platte «With The Beatles» geschenkt bekam. Später hat er die Karriere der Pilzköpfe Album für Album verfolgt. Er schwärmte für die mitreissende Musik ebenso wie für die nonchalanten Idole, die in ihm den Wunsch weckten, irgendwann selbst herauszuragen, berühmt zu werden. Und er malte sich seine Zukunft umso glamouröser aus, als er in der Gegenwart oft als Versager dazustehen schien. Der Junge fand kaum Anschluss bei den Kollegen, in der Pubertät fristete er eine einsame Existenz als scheuer Sonderling.
Bei den Beatles fand er auch einen passenden Soundtrack zu seinen Krisen. Liebe und Zweisamkeit mochten ihr Repertoire dominieren, aber sie sangen auch über Frustrationen. John Lennon zumal. «I’m a Loser» schrieb er schon 1964; ein Jahr später rief er um Hilfe: «Help me if you can, I’m feeling down». Das war Mark Chapman wie aus der Seele gesprochen. Vielleicht verbargen sich hinter der gloriosen Fassade des Erfolgs mehr psychische Abgründe, als man zunächst vermuten sollte? Ein Song wie «Help!» jedenfalls verstärkte die Identifikation des Fans mit seinem Idol.
Der Rebell wird Pazifist
Tatsächlich blickte auch der Rockstar John Lennon auf gemischte Lebenserfahrungen zurück. Die Kindheit und Jugend in Liverpool war kompliziert. Geboren 1940, wuchs er als Sohn geschiedener Eltern bei einer Tante auf. Die Mutter starb früh, das Gleiche gilt für den Onkel und Ersatzvater. In der prekären, jedenfalls wechselhaften familiären Umgebung wuchs John zu einem reizbaren, oft aggressiven Jungen heran, der sich überall als Anführer aufdrängte. Bis in die Beatles-Zeiten hinein stiess er seine Nächsten mit Gemeinheiten vor den Kopf oder gar mit roher Gewalt.
Für John Lennon erwies sich der Rock’n’Roll als Ventil. Zynismus und Zorn flossen ein in seine Songs, in den letzten Beatles-Jahren insbesondere. Wenn er seinen «Yer Blues» (1969) anstimmte, dann konnte er das Leiden, das er ansprach, gleichzeitig auch bannen. «Black cloud crossed my mind, blue mist round my soul, feel so suicidal, even hate my rock and roll» – je düsterer der Tonfall, desto befreiender offenbar die Kraft der Musik.
In den siebziger Jahren, vom fröhlichen Beatles-Image weitgehend befreit, empfahl sich Lennon an der Seite von Yoko Ono nicht nur als Pazifist und Gesellschaftskritiker. Er setzte sich auch mit der eigenen Psyche und Vergangenheit auseinander. Er unterzog sich Doktor Arthur Janovs Urschreitherapie und modellierte Lieder aus verdrängten Emotionen. In «Mother» etwa heulte er wie ein kleines Kind.
Draussen vor der Tür
Die Musik hat beim Fan und beim Interpreten einen therapeutischen Effekt. Bei Letztgenanntem führt sie schliesslich zu einem geläuterten, glücklichen Egoismus, der von seiner Frau, seiner Familie, seinen Fans geteilt wird. Mark Chapman hingegen fällt immer wieder zurück in eine traurige Egomanie.
Das College muss er nach einem Semester abbrechen. Geplagt von Depressionen, verpasst er förmlich den Eingang in die Welt der Erwachsenen. Er bleibt ein Halbwüchsiger ohne Perspektiven. Einen Draht findet er am ehesten zu Jüngeren. Eine Zeitlang kann er vietnamesische Flüchtlingskinder betreuen; bei den Schützlingen ist er sehr beliebt.
Die Trennung der Beatles im Frühjahr 1970 mag ein Grund dafür sein, dass sich Mark Chapmans Faszination für seine Jugendidole etwas abkühlt. Bereits zuvor hat er sich allerdings schon über John Lennons Blasphemie geärgert. In einem Interview bezeichnete Lennon 1966 die Beatles als erfolgreicher als Jesus Christus und provozierte damit vorab in den USA einen Skandal.
Auch Chapman hat den Vergleich nie akzeptiert. Er hält sich für einen guten Christen. Nachdem er bei den Hippies vergeblich Halt gesucht hat, flüchtet er vorübergehend in eine christliche Sekte. Später orientiert er sich wieder vermehrt am Rock’n’Roll. Er macht Erfahrungen mit LSD. Er heiratet eine Japanerin. Wie John Lennon?
Noch immer scheint das Idol Wege und Ziele einzuzeichnen in seine vernebelte Mind-Map. Mark Chapman träumt weiterhin von Erfolg und Berühmtheit. Der Ehrgeiz ist sein falscher Freund, der ihm in leuchtende Gegenwelten enteilt. Im Wahn projiziert er sich in Posen des Ruhms, in Rollen eines Retters; später auch in die eines Rächers. Irgendwann stürzt er aus fiebrigen Phantasien abermals in die Depression. Schlimmer noch: Am Strand von Honolulu versucht er seinem Leben vergeblich ein Ende zu setzen. Er wird hospitalisiert. Und bleibt nach psychotherapeutischer Behandlung als Hauswart in der Klinik.
Der Fänger im Roggen
Die Arbeit lässt ihm Zeit zum Grübeln. Ausserdem liest er viel. Zufällig fällt ihm «The Catcher in the Rye» von J. D. Salinger in die Hände. Sofort gerät er in den Sog des Romans, alsbald identifiziert er sich mit dem sechzehnjährigen Protagonisten Holden Caufield, der, aus der Schule geflogen, drei Tage in New York herumirrt.
Wie Chapman findet auch Holden keinen Zugang zur Welt, die Menschen findet er «corny» und «phony»; als biedere, heuchlerische Wesen nimmt er sie wahr. Seine intellektuelle Klarsicht verliert sich im Dunst von Einsamkeit und Hass. So phantasiert er mitunter über eine Rache oder eine Flucht. Doch der Konjunktiv lässt die reale Tat weit hinter sich. Schliesslich öffnet Salinger seinem Protagonisten einen Weg aus der Isolation. Sein Roman soll den Leser nicht beelenden, sondern gleichsam impfen gegen Weltverdruss.
Chapman hat das missverstanden. Bei ihm führt die Lektüre erst recht in die Krankheit. Wahn und Zwang übernehmen nun die Führung. Die psychische Spannung will über eine Tat, ein Attentat, abgeführt werden. Es braucht nur noch ein Opfer. Zufällig stösst Chapman in der Buchhandlung auf einen John-Lennon-Fotoband. Während er durch die Seiten blättert, fühlt er sich angewidert. Was, der einst rebellische, aggressive Rockstar setzt sich nun als mondäner Jesus in Szene? «Imagine no possessions»? Aha! Aber der Verräter erfreut sich selber an Reichtum, Besitztümern, Jachten . . .
Lennon habe die Welt an einer Kette geführt, wird Chapman Jahre später in einem Interview mit dem amerikanischen Journalisten Jack Jones erklären; er hingegen habe sich nicht einmal als Kettenglied gefühlt. Dieses Missverhältnis wollte er nicht länger auf sich sitzen lassen. Durch die Ermordung des Ex-Beatle glaubt er endlich selbst Bedeutung zu erlangen. «I was Mister Nobody until I killed the biggest somebody on earth.»
«Do it, do it!»
Am späten Abend des 8. Dezember 1980 treffen John Lennon und Mark David Chapman zum zweiten Mal aufeinander. Eine Limousine fährt den Musiker und seine Gattin – den Abend haben sie im Studio verbracht – um 22 Uhr 50 zurück vor das Dakota Building, wo sich Chapman versteckt. «Do it, do it», die ganze Zeit hat ihn ein inneres Teufelchen angestachelt. Jetzt aber herrscht plötzlich Stille in seinem Kopf.
Fans von John Lennon nach seinem Tod im Dezember 1980.
Von gegenüber der Strasse sieht er das glamouröse Paar heranschreiten. Sowie sie an ihm vorbei den Eingang zum Hof passieren, tritt er aus dem Hinterhalt und schiesst John Lennon fünfmal in den Rücken. Der Rockstar wird seinen Verletzungen später im Spital erliegen. Mark David Chapman aber lässt sich am Tatort widerstandslos verhaften. Er entschuldigt sich sogar freundlich bei den Polizisten dafür, dass er ihnen den ruhigen Abend verdorben habe.
«Du hast dir dein ganzes Leben verdorben», soll ein Beamter geantwortet haben. – 1981 wurde Chapman zu lebenslänglicher Haft verurteilt. Sein Gesuch um Entlassung wurde bisher elf Mal abgelehnt.
https://www.nzz.ch/feuilleton/john-lennon-wurde-vor-40-jahren-erschossen-wer-war-der-moerder-ld.1590110
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abvent · 3 years
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Hans Peter Klauser: Ausflecken eines Werbebildes für den Hauptbahnhof Zürich, um 1960.
Eine Fotografie von der Herstellung einer Fotografie legt die Künstlichkeit der uns umgebenden Bilderwelt offen: Auf dem mittleren Streifen eines riesigen Frauenkopfes, der am Zürcher Hauptbahnhof Nescafé anpreisen soll, kauern, ja liegen zwei Fleissige und retuschieren mit feinen Pinseltupfern Störendes – im Gesicht und auf der Fotografie. Hans Peter Klauser (1910–1989) hielt dieses doppelte Make-up in seinem eigenen Atelier an der Stadelhoferstrasse 26 in Zürich fest. Hier fertigte er von 1957 bis 1989 Grossvergrösserungen für Werbekunden und machte sich dank seinem technischen Flair einen Namen auf diesem Gebiet. Dabei hätte sich Klauser eigentlich lieber der Reportage gewidmet – dem karg bezahlten Metier, das er bei seinem Lehrmeister Gotthard Schuh gelernt und in den Jahren vor und nach dem Zweiten Weltkrieg leidenschaftlich ausgeübt hatte.
Die Beobachtung von Menschen faszinierte ihn: Sein volkskundliches Buch über das Appenzellerland enthält ebenso eindrückliche Bilder wie seine Magazinbeiträge über Flüchtlingskinder. Doch sogar einem Werbeauftrag rang er noch diese Momentaufnahme ab: Bevor die Frau am Boden zu einer überdimensionierten Maske in der Bahnhofhalle erstarrte, machte der Fotograf das offene Auge und die Feinarbeit zum Thema – eine Aufforderung, genau hinzuschauen, um im Alltäglichen das Eigenartige zu entdecken.
Vom ersten zum zweiten Blic
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abvent · 3 years
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Roman Vishniac: «The Last Hanukkah», Krakau, 1938.
Eine Gruppe von Männern im Schneeregen: Die Aufnahme dieser düsteren Versammlung entstand 1938 im Judenviertel von Krakau. Roman Vishniac (1897–1990), ein Russe jüdischer Abstammung, war ein Pionier der Wissenschaftsfotografie und lebte damals in Berlin. Zwischen 1935 und 1939 reiste er im Auftrag einer jüdischen Hilfsorganisation mehrmals nach Osteuropa, wo es ihm, trotz Fotografieverbot, gelang, die elenden Lebensbedingungen der Juden in den Ghettos und Schtetl festzuhalten. Vishniacs winterliche Szene zeigt Altkleiderhändler und ihre Kunden. Der Titel der Fotografie bezieht sich auf eine Einladung zur Chanukka-Feier an der Hauswand.
Es war das letzte Mal, dass das Lichterfest in Kazimierz stattfand, dem jüdischen Wohnviertel von Krakau. Nach dem Überfall auf Polen 1939 bauten die Nationalsozialisten am Stadtrand ein mit Stacheldraht und Mauern umgebenes und von der SS bewachtes Ghetto. 15 000 Juden wurden auf einem Areal zusammengepfercht, wo vorher 3000 Menschen lebten. Die Bevölkerung des Krakauer Ghettos wurde 1942/43 in Arbeits- und Vernichtungslager deportiert, Hunderte von Geschwächten im Ghetto selbst erschossen. Vishniacs karge Fotografie scheint in ihrer bleiernen Tristesse das unfassbare Grauen anzudeuten: schutzlose Menschen in Nässe und Kälte vor einer abweisenden Fassade und einer geschlossenen Tür.
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abvent · 3 years
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1958
Schreckerfüllt blickt der Kindermörder auf. Er ist in die Falle getappt. Doch auf der Fotografie von Rob Gnant (1932–2019) steht ihm nicht die Polizei gegenüber, sondern die Filmcrew. Die Überführung des Täters, im Film so real wie möglich inszeniert, wird als Illusion entlarvt: Unscharf ragen Filmklappe und Kameraobjektiv ins Bild und scheinen den Schauspieler Gert Fröbe zu bedrohen. Der Fotograf ist im Auftrag der Zeitschrift «Die Woche» am Set von «Es geschah am helllichten Tag» und betrachtet die Szene aus der Perspektive des Kameramanns. Diesen Beruf hätte Gnant selbst gerne erlernt, wegen mangelnder Ausbildungsmöglichkeiten ist aus seinem Jugendtraum eine Fotografenlehre geworden. Film und Fotografie bleiben aber sein Leben lang miteinander verbunden: Bewegung und Unschärfe verleihen seinen Bildern Dynamik, das Fotografieren in Sequenzen lässt seinen Reportagestil filmisch wirken.
Als kritischer Zeitgenosse berichtet Gnant immer wieder über soziale Missstände – etwa mit Reportagen über die italienischen Gastarbeiter und ihren Alltag in der Schweiz. Sein feines Gespür für starke Bilder prägt auch den Film «Siamo Italiani», den Gnant 1964 mit Alexander J. Seiler und June Kovach realisiert. Die Kameraführung des Fotografen trägt dazu bei, dass dieser Film zu einem aufrüttelnden Statement gegen die damalige «Überfremdungsinitiative» wird.
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abvent · 3 years
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René Groebli: Aus: «Das Auge der Liebe», 1952.
René Groeblis zweites Fotobuch «Das Auge der Liebe», 1954 erschienen, fand in der konservativen Schweiz der 1950er Jahre wenig Anklang, doch inzwischen ist es aus der Fotografiegeschichte nicht mehr wegzudenken. Der Bildband liest sich wie eine poetische Liebeserklärung an seine Frau Rita. Die Aufnahmen, auf der Hochzeitsreise in Frankreich entstanden, scheinen einen Tag im Leben der Frischvermählten einzufangen. Nur selten wird der intime Raum des Hotelzimmers verlassen. Stattdessen verweilt das Auge der Kamera auf der Geliebten oder auf den Spuren einer gemeinsam verbrachten Nacht.
Der Fotograf und Ehemann bleibt – mit wenigen Ausnahmen – unsichtbar. Dennoch führt er immer Regie: durch seinen Blick, der den weiblichen Körper nicht ausstellt, sondern spielerisch mit der Kamera umkreist. Rita zeigt sich als Silhouette im Gegenlicht, taucht aus dem Zwielicht des Hotelzimmers auf oder verbirgt sich in der leichten Bewegungsunschärfe der Aufnahmen. In die Intimität und Sinnlichkeit mischt sich eine sanfte Melancholie. Der erotische Unterton wie auch die radikale Subjektivität der Fotografie machen «Das Auge der Liebe» zu einem herausragenden Werk, mit dem Groebli im Bereich der Bildererzählungen neue Massstäbe setzte.
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abvent · 3 years
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Die Österreicherin Inge Morath war eine der seltenen Fotografinnen, die Einsitz hatten und haben in der Agentur Magnum. Morath begann ihre Arbeit bei Magnum als Sekretärin. «Dancer's skirt at a fair Sevilla», 1987. (Bild: Inge Morath / Magnum)
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abvent · 3 years
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Die Zürcher Prostituierte «Irene» in Rom 1978; die Fotografin Roswitha Hecke beobachtet die Reaktion der männlichen Passanten. (Bild: Roswitha Hecke)
https://www.nzz.ch/feuilleton/die-photobastei-zeigt-in-womenphotographer-grosse-fotografinnen-ld.1473376
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abvent · 3 years
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Ein Klassiker der «Candid Camera»: Ninalee Craig spaziert 1951 durch Florenz, und ihre Freundin, die Fotografin Ruth Orkin, beobachtet, was passiert. Üblicherweise ist die Hand im Schritt des erfreuten Kommentators (Bildmitte) wegretuschiert, in Zürich ist das Original zu sehen. (Bild: Ruth Orkin)
Es gibt keinen geschlechtstypischen Blick in der Fotografie. Aber eine Tendenz: Wenn Frauen fotografieren, fotografieren sie das Andere
Frauen haben die Fotografie emanzipiert, und die Fotografie hat einen wesentlichen Beitrag zur ihrer eigenen Emanzipation geleistet. Zwischen dem Medium und den Künstlerinnen bestand seit je eine besondere Beziehung. Doch die Fotogeschichte will davon nichts wissen.
Daniele Muscionico07.04.2019, 18.00 UhrHörenMerkenDruckenTeilen
Die Fotografie galt als Beleidigung der hohen Kunst. Man schimpfte sie Muttermörderin in Bezug auf die Malerei, diese Händlerin des einzigartigen, handgefertigten Originals; Fotografie schien die Räuberin alles Menschlichen überhaupt: Raubte sie denn nicht Seelen, als Mitte des 19. Jahrhunderts ein Automat Menschen kopierte, als hätte ein Geschlechtsakt mit der Luft stattgefunden?
Die Fotografie gilt seit ihrer technischen Erfindung als minderbemittelte Verwandte der schönen Künste. Denn anders als die Kunstgegenstände vordemokratischer Epochen setzten Fotografien nicht die Intentionen eines wie auch immer gearteten Künstlers oder einer Künstlerin voraus. Im Märchen von der Fotografie bürgt der Zauberkasten selbst für Wahrheit und Wahrhaftigkeit, er verbannt den Irrtum, wiegt Unerfahrenheit auf und belohnt das Unwissen.
Der Meister persönlich, Henri Cartier-Bresson, prägte den schillernden Begriff vom Fotografen als Zen-Bogenschützen, der selbst zum Ziel werden muss, wenn er treffen will: «Das Denken sollte vorher oder nachher stattfinden», sagte er, «niemals jedoch unmittelbar während des Fotografierens.» Denken galt als Bewusstseinstrübung.
Foto auf Seide, ein Weltpatent
An diesem ambivalenten Punkt kommt die Leistung der Frauen für die Fotografie ins Spiel. Man musste als Fotografin offenbar nicht denken können, verfügte jedoch über geschlechtstypisch weibliches Geschick und Geduld. Schon zu Beginn schien das neue Medium ein idealer Zeitvertreib für stickende und aquarellierende Salon-Geschöpfe.
Die Französin Louise Laffon etwa fertigte fotografische Jagdstücke auf Seide und Satin an und erhielt dafür nicht nur ein Patent, sondern auf der Pariser Weltausstellung 1867 auch prompt eine anerkennende Erwähnung. Besassen Frauen mit der Fotografie folglich den Schlüssel, um den Geschlechterkäfig zu öffnen?
Die Wahrheit lautet anders: Mit der Erfindung der Fotografie entdeckten Frauen zwar ein Medium der Emanzipation. Sie okkupierten ein Gelände, das lange in Verruf stand. Doch sie besetzten ein Terrain, das ohne Bedeutung und ohne Einfluss keine Bedrohung für den männlichen Kunstbetrieb darstellte. Dennoch bevorzugte die einzige Frau, die als Fotokritikerin im Frankreich des 19. Jahrhunderts bis heute bekannt ist, die Anonymität und signierte mit einem Pseudonym, «Pascaline». Das Pariser Musée d’Orsay fragte noch 2016 mit einer Ausstellung ihre Landsleute gewiss nicht zufällig: «Qui a peur des femmes photographes?»
Britische Volkszählungen zeigten allerdings, dass in England bereits 1901 auf drei männliche Fotografen eine Berufsfotografin kam. Und das zu einer Zeit, in der es für Frauen ungewöhnlich war, überhaupt einer bezahlten Arbeit nachzugehen. Die Firma Kodak ihrerseits erfand das «Kodak Girl» und etablierte 1893 die Hausfrau, Mutter, die Familienchronistin als Zielgruppe für ihre Werbekampagnen.
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Die Österreicherin Inge Morath war eine der seltenen Fotografinnen, die Einsitz hatten und haben in der Agentur Magnum. Morath begann ihre Arbeit bei Magnum als Sekretärin. «Dancer's skirt at a fair Sevilla», 1987. (Bild: Inge Morath / Magnum)
Es waren amerikanische Fotografinnen, die die weibliche Perspektive der Fotografie vorantrieben. Sie hatten einen Mittelweg zwischen Kunst und Kommerz gefunden und unternahmen einiges, um ihre Geschlechtsgenossinnen zu motivieren: Frances Benjamin Johnston verfasste ihren Artikel «What a Woman Can do With a Camera» bereits 1897. Imogen Cunningham dachte 1913 schon um einiges weiter und bezeichnete «Photography as a Profession for Women». Dass selbst etablierte Fotografinnen als Musen ihren Mentoren mitunter ehrerbietige Biografien widmeten, ist umgekehrt nicht denkbar. Hätte Man Ray je über Lee Miller geschrieben, ein Alfred Stieglitz über Dorothy Norman?
Die Bedeutung der Frauen für die Fotografie, nicht nur im privaten Kontext, sondern als ernsthafte Künstlerinnen, ist bis heute ein vernachlässigtes Forschungsgebiet. Die Ausstellung «#Womenphotographer vol. I» in der Zürcher Photobastei erinnert daran. Die Kuratorinnen Gisela Kayser und Katharina Mouratidi führen wichtige weibliche Positionen des 20. Jahrhunderts zusammen, ohne dabei der Kurzsichtigkeit zu erliegen, einen geschlechtstypischen Blick zu behaupten. Es gibt ihn nicht, wird im Gegenteil suggeriert, doch es gibt eine Vielzahl unbekannter weiblicher Beiträge zur Entwicklung und Sehweise der Fotografie, wie wir sie heute kennen.
Eine Tendenz jedoch fällt auf: Wenn Frauen fotografieren, fotografieren sie das Andere. Diane Arbus ist der Prototyp. Im Gefühl der Aussenseiterin fällt ihr Auge hinter der Kamera auf bürgerliche Freaks. Susan Sontag liess zwar an der Motivation von Arbus kaum ein gutes Haar. Sie verurteilte es, die Kamera als «moralischen Freipass» zu verstehen und sich wie die Künstlerin beweisen zu wollen, dass man den Schrecknissen des Lebens unzimperlich ins Auge sehen kann.
Anna Atkins bleibt im Dunkeln
Doch Frauen wollen dem Anderen Raum geben, zynisch nie, naiv vielleicht. Auch Nan Goldin und ihr Tagebuch einer sexuellen Abhängigkeit sind in Zürich zu sehen. Die Amerikanerin Merry Alpern wiederum verhält sich unweiblich mit ihren voyeuristischen Arbeiten mit versteckter Kamera, «Dirty Windows» und «Shopping». Mit einem Teleobjektiv fotografierte sie nahe der Wall Street ein illegales Bordell, Drogen, G-Strings, Dollars – ein Sexrausch. In Umkleidekabinen der Shoppingmalls ertappte sie bürgerlich frustrierte Damen bei einem ähnlich hemmungslosen Unternehmen – dem Kaufrausch.
Doch die wahren Pionierinnen zählen bis heute zu den Unsichtbaren. Wer kennt Anna Atkins? Nicht dem Briten Fox Talbot nämlich gebührt der Ruhm, die erste Fotografie veröffentlicht zu haben (in seinem legendär gewordenen Buch «The Pencil of Nature» mit dem Bild der Lacock Abbey). Eine Frau war vifer, schneller als ihr Lehrer und publizierte zwei Jahre vor diesem mit dem Bildband «British Algae: Cyanotype Impressions» (1843) zum ersten Mal Bilder, die mithilfe einer fotografischen Technik erstellt worden waren. Anna Atkins hat als Künstlerin und Botanikerin die Akzeptanz des neuen Mediums Fotografie für wissenschaftliche Illustrationen durchgesetzt. Wer sie heute prominent in Erinnerung rufen würde, der hätte für die Fotogeschichte etwas gewagt und geleistet.
#Womenphotographer vol. I, Photobastei Zürich, bis 5. Mai.
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Nicolas Faure: Zwei Badenixen am Pier des Hudson River in New York, 1980.
Nicolas Faure, geboren 1949, wurde mit unkonventionellen Schweiz-Bildern bekannt: Seine grossformatigen Aufnahmen von Autobahnlandschaften zum Beispiel brachen radikal mit der Tradition der idyllisierenden Kalenderfotografie, welche die Darstellung der Schweiz so lange geprägt hatte. Weniger bekannt ist, dass sich der aus Genf stammende Autodidakt schon in den späten 1970er Jahren ganz der Farbe verschrieben hatte – zu einer Zeit, in der die Schwarz-Weiss-Fotografie immer noch als künstlerisch wertvoller galt. Damals lebte Faure in New York und entwickelte auf seinen Streifzügen durch die Stadt eine eigene fotografische Handschrift.
Sein Interesse galt dem urbanen Alltag, in dem skurrile Gegensätze aufeinandertreffen. Die erotisch aufgeladene Inszenierung der zwei Badenixen auf dem heruntergekommenen Pier am Hudson River vereint Glamour und Schäbigkeit. Als Beobachter dieses Fotoshootings thematisiert Nicolas Faure zugleich auch Exhibitionismus und Voyeurismus als Grundzüge des Mediums Fotografie. Für seine anekdotische und lebensnahe Street-Photography war die Farbe ein unabdingbares Stilmittel. Eine Auswahl seiner Aufnahmen veröffentlichte er später im Buch «Goodbye Manhattan» – ein spannendes Zeugnis des Kulturwandels, der die Fotowelt erst im darauffolgenden Jahrzehnt so richtig erfassen und die Farbfotografie museumstauglich machen sollte.
https://www.nzz.ch/fotografie/die-fotostiftung-schweiz-winterthur-zeigt-ihre-bilder-in-der-nzz-ld.1486396
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