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#LiteratourDHorizon
akademanie · 1 year
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LiteraTour d‘Horizon | Zehn Sätze aus zehn Büchern
Neulich bei Twitter: «Lesesafari – Schlage in zehn beliebigen Büchern aus deinem Regal S. 126 auf und lies den ersten kompletten Satz. Was hast du Spannendes entdeckt?»
Entdeckt habe ich dabei mehr als Spannendes, viele schöne Sätze zum Beispiel, pure Poesie im Nachschlagewerk, Merkwürdigkeiten in der «Erziehungskunst» und eine über einhundert Jahre alte Widmung.
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So wanderten und ritten sie etwa eine Meile. Geoffrey Trease – Die Reise nach Varna (1996)
Aber die Traurigkeit stieg höher und erreichte seine Knie. Régis de Sá Moreira – Das geheime Leben der Bücher (2004)
Die Wolken wichen schneller, als wir zu hoffen wagten. Walter Heuer, Max Flückiger, Peter Gallmann – Richtiges Deutsch; Vollständige Grammatik und Rechtschreiblehre unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtschreibreform; Kapitel «Die Konkjunktion» (2004, 26. Auflage)
Erfahrungsgemäss wirkt auf junge Sünder dieser Art oft heilend, somit heilsam, wenn sie in Sorge, Kreuz, schwere Bemühungen kommen, welche ihr ganzes Sinnen und Denken gewaltsam in Anspruch nehmen. Alban Stolz – Erziehungskunst (1921)
Ist dir, Jüngling! denn bei dem Beschauen der Landschaften alter Meister nicht ganz wunderbarlich zu Mute geworden? E.T.A. Hoffmann – Nachstücke. Erster Teil; Die Jesuitenkirche in G. (1817; in der Reclam-Ausgabe von 1999)
Die Archivmappe ergab, dass es in Kymenlaakso noch mindestens zwei Personen mit Selbstmordabsichten lebten. Arto Paasilinna – Der wunderbare Massenselbstmord (2002)
«Und wie war das mit diesem eigenartigen Menschen, dem Gärtner?» erkundigte sich Mr. Hitchcock. Alfred Hitchcock – Die ??? und der weinende Sarg (1988) (Die Seite 126 ist übrigens die letzte Seite dieses Buches.)
Der Anruf meiner Frau erreichte mich im Nachbarort. Roland Gallusser – Die Einsamkeit des Landarztes; Erzählungen (1978)
Er liess sich eine tüchtige Mauleselin anschirren, versah sich mit Geld, Kleinodien und einigen Lebensmitteln, und nachdem er seinen Leuten gesagt hatte, er wolle ganz allein auf ein paar Tage verreisen, ritt er fort. Dalziels illustrierte «Tausend und eine Nacht» (nicht nach 1893; Widmung von Hand: «Für Hermann Haagen zu Weihnachten 1893 von Gotthard Keller»)
Derweil lag Gian die Brughi auf seiner Ruhestätte, die struppigen roten Haare voller trockener Blätter hingen ihm über die Stirn, die grünen Augen röteten sich durch die Anstrengung, und so las er und las, während er die Kinnbacken beim eifrigen Buchstabieren bewegte und einen mit Spucke benetzten Finger in die Höhe hielt, um gleich die nächste Seite umwenden zu können. Italo Calvino – Der Baron auf den Bäumen (1984)
LiteraTour d‘Horizon | Was ist das?
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«LiteraTour d‘Horizon»: Was ist das? Tour d‘Horizon bedeutet so viel wie «Überblick, Blickfeld», und die Literatour ist eine Wortschöpfung aus der Literatur und – eben – der Tour.
In loser Folge erscheinen in der LiteraTour d‘Horizon Buchbesprechungen, meist von Wiederentdeckungen, hin und wieder auch von Neuerscheinungen und -entdeckungen. Dabei geht es mir nicht darum, brillante Verrisse zu schreiben, sondern das, woran ich Gefallen finde, zu erzählen. Für die Besprechung der Werke werde ich nicht bezahlt und auch sonst in keiner Weise unterstützt. Die LiteraTour d‘Horizon ist vielmehr ein Liebhaberprojekt und der Versuch, schöne Werke aus den Bücherkisten zu holen und zugänglich zu machen.
Lese- und Besprechungstipps nehme ich allerdings gerne entgegen. Wer mag, darf mir auch Leseexemplare schicken, wobei ich mir ausdrücklich vorbehalte, von einer Besprechung abzusehen.
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akademanie · 2 years
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LiteraTour d‘Horizon | Der Schatz des Bucoleon
«Da liess sich Watkins vernehmen: ‹Ich auch, Eure Lordschaft. Wahrhaftig, das will ich. Wenn Sie mir noch ein Glas Whisky geben, bin ich imstande, gegen sie alle aufzukommen. Jawohl. Ich kann ein Eisen noch schwingen, auch wenn ich eins auf den Kopf bekommen habe. Lassen Sie mich mithalten, meine Herren. Das ist alles, worum ich Sie bitte.›»
Ein Held bricht auf in eine fremde, gefährliche Welt, lernt exotische Orte kennen und trifft auf finstere Mächte. Dabei kann er aber immer auf die Hilfe seiner Getreuen zählen und findet erst noch Hilfe an Orten, an denen er sie nicht erwartet. Und am Ende seiner Reise wartet vielleicht sogar ein Schatz. «Der Schatz des Bucoleon» von Howden Smith hat alles, was es für eine typische Abenteuergeschichte braucht. Held Hugh Chesby will eigentlich nichts weiter als nach dem Krieg an der Wallstreet viel Geld zu verdienen und «glücklich werden, reich, zufrieden und fett». Deshalb kam er mit seinem Freund «Jack herüber nach New York, anstatt zu Hause zu bleiben und mich mit meinem Onkel herumzuraufen.» Dieser Onkel allerdings telegraphiert gleich zu Beginn der Geschichte und kündigt seine baldige Ankunft in New York an, und zwar mit dem Hinweis, er habe endlich das Rätsel um den Schatz gelöst. Der Schatz ist eine Familienlegende der Chesbys, in dem alten englischen Herrenhaus gibt es dutzende Hinweise darauf. Seit Generationen allerdings ist es den Chesbys nicht gelungen, das Rätsel zu lösen. Und nun will also Hughs Onkel James das Rätsel endlich gelöst haben. Hugh glaubt nicht so recht daran und will eigentlich mit der ganzen Geschichte nichts zu tun haben. Sein Freund Jack und seine Cousine Betty hingegen finden die Sache äusserst spannend und würden am liebsten gleich abreisen, Hugh wehrt aber ab. Noch. Denn Onkel James wird kurz nach seiner Ankunft in New York ermordet – und Hugh sieht sich gezwungen, sich der Familienangelegenheit anzunehmen. Seine Reise führt ihn von Amerika erst zum Familienwohnsitz nach England und dann bis nach Konstantinopel zum berühmten «Bucoleon», einem Palast am Marmarameer. Begleitet wird er dabei von seinen Freunden Jack und Nikka, seiner Cousine Betty, deren Vater und Watkins, dem Diener von Onkel James.
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Die Abenteuergeschichte ist kurzweilig, bisweilen einfach gestrickt, aber durchaus unterhaltsam. Erzählt wird sie aus der Sicht von Jack, der als Ich-Erzähler nahe am Geschehen ist und seine Eindrücke schildert. Die Sprache ist eine altmodische. So beschreibt Jack den Diener Watkins etwa als: «Plump, recht solide gebaut, mit dem maskenhaften Gesicht eines englischen Faktotums.» Hin und wieder gibt es Übersetzungsfehler, zum Beispiel als etwas auf dem «Mantelstück» stehen soll. Damit ist das Kaminsims gemeint, das im Englischen «mantlepiece» heisst.
Aber …
… man muss die Geschichte in ihrer Zeit lesen, will heissen: Sie ist nicht frei von kritischer Haltung. So gibt es zum Beispiel den Freund «Nikka, den Zigeunerviolinisten». Überhaupt sind bestimmte Beschreibungen aus heutiger Sicht mindestens gewöhnungsbedürftig, wenn nicht gar untragbar. Erschienen ist das Original in den 1920ern, wahrscheinlich 1923. Allerdings hätte man, hätte der Autor Howden Smith, auch schon vor fast 100 Jahren wissen können, dass man allen Menschen mit Respekt begegnen sollte. Gerade einem jungen Mann in den Vereinigten Staaten von Amerika, in dem die (formelle) Abschaffung der Sklaverei kaum drei Jahrzehnte zurücklag – der 13. Zusatzartikel der Verfassung war 1865 in Kraft getreten, Smith 1887 oder 1888 geboren – hätte es besser wissen können. Über die Persönlichkeit des Autors ist nicht viel bekannt, er soll aus einer alten «New England»-Familie stammen, introvertiert, eher klein und schmächtig gewesen sein und im Alter von 17 Jahren beschlossen haben, Journalist zu werden. Zeitlebens eine grosse Inspiration soll ihm sein Verwandter Montreville Howden Smith gewesen sein, «British Vice Counsel to Zanzibar and an Africa expert, representative to several importing companies» wie das Real-Estate-Magazin «Brownstoner» mit Sitz in Brooklyn in einem Beitrag von 2014 schreibt. Montreville soll 1901 verantwortlich gewesen sein für die grösste Elfenbeinlieferung von Sansibar in die Vereinigten Staaten, eine Fotografie zeigt ihn wohl auf dem Haufen Elfenbein umgeben von Sklaven. Es scheint nicht unbedingt wahrscheinlich, dass man sich im Hause Smith kritisch mit bestehenden Vorurteilen auseinander gesetzt hatte. Ganz im Gegenteil: Howden Smith selbst hat sich mit etwa 20 Jahren selbst in fremde Länder aufgemacht, und zwar in den Balkan. «Like foreign journalists before and after him, Howden Smith wanted to experience war and adventure firsthand as a newspaper correspondent. He traveled across the Balkans and embedded himself with a group of expat Bulgarians who called themselves ‹Chetniks›», heisst es im Brownstoner-Beitrag. Klingt nun auch nicht besonders – nun ja – überlegt. 1907 schloss er sich dann einer bulgarischen Untergrundorganisation an, die gegen das Osmanische Reich kämpfte. Nur ein Jahr später kehrte er allerdings nach New York zurück, wo er seine Erlebnisse im Buch «Fighting the Turks in the Balkan» niederschrieb. Ausserdem war die Zeit damals reif für Abenteuergeschichten, die Blütezeit der «Pulp Fiction» hatte begonnen.
Zurück zum «Schatz des Bucoleon»: Natürlich dürfen Charaktere so dargestellt werden, dass man sie als Leserin nicht mag, wenn sich dahinter aber eine grundsätzlich abwertende Haltung verbirgt, so ist das schwierig bis nicht zu ertragen. Howden Smith dürfte den damals gängigen Vorurteilen und Stereotypen gegenüber durchaus unkritisch gegenüber gestanden haben. Allerdings liest sich aus dem Abenteuerroman auch immer wieder Bewunderung heraus. So ist in der deutschen Übersetzung zwar von «Zigeunern» die Rede, aber in der Beschreibung des Onkels von Freund Nikka zum Beispiel liegt auch Respekt für dessen Willensstärke und Schlauheit. Alles in allem ist die Frage, ob das Buch heute noch gelesen werden sollte, nicht einfach und allgemeingültig zu beantworten. Versteht man es als Zeitzeugnis und trägt beim Lesen die richtige Brille, so ist der «Schatz des Bucoleon» eine unterhaltsame Geschichte, die aber eben auch zum Nachdenken über bis heute vorherrschende Stereotypen und Denkmuster anregt. Kaum jemand ist frei davon, problematische Begriffe oder Muster zu reproduzieren. Davon können wir uns nur befreien, wenn wir uns immer wieder damit auseinandersetzen und unser Bewusstsein dafür schärfen. Und das kann auch die Lektüre alter Geschichten leisten sofern wir willens sind, uns entsprechend damit auseinanderzusetzen.
Howden Smith: «Der Schatz des Bucoleon», Neufeld & Henius, Berlin, vermutlich 1928
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LiteraTour d‘Horizon | Was ist das?
«LiteraTour d‘Horizon»: Was ist das? Tour d‘Horizon bedeutet so viel wie «Überblick, Blickfeld», und die Literatour ist eine Wortschöpfung aus der Literatur und – eben – der Tour.
In loser Folge erscheinen in der LiteraTour d‘Horizon Buchbesprechungen, meist von Wiederentdeckungen, hin und wieder auch von Neuerscheinungen und -entdeckungen. Dabei geht es mir nicht darum, brillante Verrisse zu schreiben, sondern das, woran ich Gefallen finde, zu erzählen. Für die Besprechung der Werke werde ich nicht bezahlt und auch sonst in keiner Weise unterstützt. Die LiteraTour d‘Horizon ist vielmehr ein Liebhaberprojekt und der Versuch, schöne Werke aus den Bücherkisten zu holen und zugänglich zu machen.
Lese- und Besprechungstipps nehme ich allerdings gerne entgegen. Wer mag, darf mir auch Leseexemplare schicken, wobei ich mir ausdrücklich vorbehalte, von einer Besprechung abzusehen.
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akademanie · 3 years
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Nationalbibliothek, wir kommen!
Gleich zwei Antworten hatte Umberto Eco parat, wenn man ihn fragte, ob er die Bücher in seinen Bibliotheken alle gelesen hatte. Nämlich: «Nein, es sind nur die, die ich bis nächste Woche lesen muss.» Und: «Ich habe Keines gelesen. Warum sollte ich sie sonst hier aufbewahren?»
Eine Aufgabe der Schweizerischen Nationalbibliothek ist genau das: Das Aufbewahren und Konservieren von Schriftstücken. Oder wie es auf der Website heisst: «Die Schweizerische Nationalbibliothek sammelt, erschliesst, erhält und vermittelt Informationen über die Schweiz.» Dass wir von der Nationalbibliothek nun angefragt wurden, zwei unserer Buchprojekte dem Bestand zu überlassen, ist uns Ehre und Freude gleichermassen – und so sind die beiden Bücher per Post auf dem Weg nach Bern. 🥳
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Über die Bücher
Die «Encyclopaedia Fantastica» versammelt phantastische Familienangelegenheiten, will heissen: In ihr finden sich Illustrationen und Lexikoneinträge zu den verschiedensten Gestalten, Wesen und Sprüchen, die seit vielen Jahren in der Familie zum Standardrepertoire gehören. ISBN: 978-3-033-08288-5
Zu «Das ist Kunst!» haben wir geschrieben: «Warum ein Buch? Und warum ein Buch mit Tautogrammen? Ganz einfach: Weil wirs können. Und weils Spass macht. Die Tautogramme sollen anregen zum Schmunzeln, aber auch zum Weiterdenken: Was ist genau gemeint? Warum ist es gemeint? Und ist es überhaupt möglich, von einem einzelnen Buchstaben ausgehend eine ganze Geschichte zu erzählen? Soviel vorweg: Ist es, aber nicht ohne Einschränkungen und gleichzeitig nicht ohne grösstmögliche Freiheit.» ISBN: 978-3-033-07638-9
Auszug aus der Encyclopaedia Fantastica: Bogomil
Begriffsklärung Der Hausgeist Bogomil ist ein liebenswerter, etwas schelmischer Mitbewohner, der mit Menschen unter einem Dach wohnt.
Merkmale Der Hausgeist Bogomil ist ein familientreuer Schutzgeist, das heisst er bleibt stets mit den gleichen Menschen zusammen. Bisher hat noch kein Mensch den Hausgeist zu Gesicht bekommen. Die Abbildung (als Gespenst) auf der linken Seite lehnt an historische Darstellungen des Hausgeistes an. Man ging lange davon aus, dass sich Haus- und andere Geister in Bettlaken kleideten. Heute herrscht allerdings Einigkeit darüber, dass Geistwesen grundsätzlich unsichtbar sind. Die Vorstellung vom Bettlaken, ist auf die schweren Vorhänge in den alten Burgen (und deren bisweilen äusserst abergläubische Bewohner) zurückzuführen. So haben sich die Vorhänge in kaum merkbaren Luftzügen bewegt, der Burg damit eine unheimliche Atmosphäre verliehen und die schreckhaften Burgbewohner verängstigt.
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Auszug aus Das ist Kunst!
«C»halbsbrodworscht Chefs choched Chlöpfer, Chabis, Cholrabi, Chalbsbrodworscht. Chreis-Cheib-Chunde chömed, cheredi. «Chäs-Chnöpfli, Chäsgipfeli – choge chalt!» chreied Chunde, cheibe Chefs chalbered. Chemifeger chunt, chlotzt chum, chafled, chiflet: «Chäs-Chüechli choge chnuschprig! » Chefs chäräd: «Chemifeger! Cherum!» Chemifeger chnorzet: «Chnuschtis, Chäs-Chlumpe chocheder. Chrüzsatan!» Chefs chüüchäd. Chemifeger chertum. Chrampfendi Chefs choched chlobigi Chäs-Chalbs-Choscht – Chranki Cheibe chlaued Chläpf, Chaschper-Cops chillets.
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Haben wollen?
Die Bücher sind im Rahmen des Schreibprojekts «Edition Unik» entstanden und können erworben werden. Sie sind in der Schweiz gedruckt und in Leinen gebunden. Da sie «customized» sind, also auf individuellen Wunsch angefertigt werden und nicht in grösserer Auflage erscheinen, ist der Stückpreis nicht mit der Wühlkistenware im Supermarkt vergleichbar. Der etwas höhere Preis lohnt sich aber durchaus.
Der langen Rede kurzer Sinn: Melden Sie sich bei Interesse! [email protected]
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akademanie · 3 years
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LiteraTour d‘Horizon | Der Tunnel
Neunzehnuhrsiebenundzwanzig. Dann soll der Zug in der Stadt anhalten, in der der Vierundzwanzigjährige studiert und ein Seminar besuchen soll, das «zu schwänzen er schon entschlossen» ist.
Friedrich Dürrenmatt beschreibt in seiner surrealen Kurzgeschichte «Der Tunnel» von 1952 eine Zugreise ins Ungewisse. Protagonist ist der namenlose «Vierundzwanzigjährige, fett, damit das Schreckliche hinter den Kulissen, welches er sah (das war seine Fähigkeit, vielleicht seine einzige), nicht allzu nah an ihn herankomme ...». Der Tunnel ist nur schon darum eine gute Geschichte, weil sie zeitlos ist. Natürlich, heutzutage gibt es in den Zügen keine dritte Klasse mehr, das Rauchen ist unpopulär geworden und die «höchstens hundertfünf» Stundenkilometer, die der Zug erreicht hat, sind längst nicht mehr rekordverdächtig. Die zugelassene Höchstgeschwindigkeit auf dem Schweizer Fernverkehrsnetz beträgt inzwischen üblicherweise 160km/h, in einigen Tunnels, etwa im Gotthardbasistunnel, sind es sogar 250km/h. Auch serviert man im Speisewagen heuer eher mal Grünes Thai-Curry mit Poulet oder in Plastik abgepackte Käseplättchen statt «Wienerschitzel mit Reis». Der Protagonist durchquert den Speisesaal aber auch nur, um mit Zugführer Keller in den Maschinenraum zu klettern.
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Zeitlos ist die Geschichte, weil sie als Metapher für das Leben an sich gelesen werden kann. Es ist ein ganz normaler Sonntagnachmittag, als der Protagonist in den «gewohnten Zug, Abfahrt siebzehnuhrfünfzig, Ankunft neunzehnuhrsiebenundzwanzig» steigt, um zu seinen «nebulösen Studien» zurückzukehren. Wie üblich fährt der Zug durch einen kurzen Tunnel, der an diesem Sonntagnachmittag aber nicht enden will. Der Zug auf seinen Schienen stellt das geordnete Leben dar, der Tunnel symbolisiert das Unvorhergesehene, das Unerwartete, das Ungewisse. Den oft erst im Nachhinein wahrgenommenen Anzeichen einer Veränderung ähnlich, hat der Vierundzwanzigjährige dem Tunnel zuvor nie wirklich Beachtung geschenkt. Und ärgert sich jetzt ein bisschen darüber. «Gespenstisch heiter» bleibt er trotzdem.
Am 26.7.2020 wurde ein Asteroid nach Friedrich Dürrenmatt benannt. Der Autor selbst wurde am 5.1.1921 geboren und starb am 14.12.1990.
Geschichte gelesen in: «Fünfzig Geschichten aus fünfzig Jahren». Diogenes Verlag. Zürich. 2002.
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LiteraTour d‘Horizon von Mensch Meyer
«LiteraTour d‘Horizon»: Was ist das? Tour d‘Horizon bedeutet so viel wie «Überblick, Blickfeld», und die Literatour ist eine Wortschöpfung aus der Literatur und – eben – der Tour.
In loser Folge erscheinen in der LiteraTour d‘Horizon Buchbesprechungen, meist von Wiederentdeckungen, hin und wieder auch von Neuerscheinungen und -entdeckungen. Dabei geht es mir nicht darum, brillante Verrisse zu schreiben, sondern das, woran ich Gefallen finde, zu erzählen. Für die Besprechung der Werke werde ich nicht bezahlt und auch sonst in keiner Weise unterstützt. Die LiteraTour d‘Horizon ist vielmehr ein Liebhaberprojekt und der Versuch, schöne Werke aus den Bücherkisten zu holen und zugänglich zu machen.
Lese- und Besprechungstipps nehme ich allerdings gerne entgegen. Wer mag, darf mir auch Leseexemplare schicken, wobei ich mir ausdrücklich vorbehalte, von einer Besprechung abzusehen.
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akademanie · 3 years
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LiteraTour d‘Horizon | Das Verhör des Harry Wind
Wer macht Meinungen? Der Schweizer Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann hat schon 1962 die «Männer in den Reklamebüros» als Drahtzieher entlarvt, davon handelt auch sein «Verhör des Harry Wind».
«Ich weiss nicht, wie die Russen zu dieser Denkschrift gekommen sind», sage ich, «aber wenn sie sie wirklich besitzen, und wir haben keinen Anlass, daran zu zweifeln, dann heisst das noch lange nicht, dass ich sie ihnen in die Hände gespielt habe. Ich finde die Haltung, die die Bundespolizei jetzt einnimmt, falsch. Die Bundesbehörde sollte den Leitartikel der ‹Prawda› als dummdreistes Propagandamanöver abtun, sollte behaupten, die Denkschrift, von der die Rede ist, sei von den Russen angefertigt, meinetwegen erfunden worden. Aber ich fürchte, dafür ist es jetzt zu spät, obgleich die Bundespolizei nichts anderes in den Händen hat als diesen Leitartikel, nicht einmal die Fotokopie der Denkschrift, und nachdem sich die Amerikaner geweigert haben …» Rappold unterbricht mich: «Sie sind gut unterrichtet.»
Protagonist Harry Wind sitzt in Untersuchungshaft und soll für Inspektor Rappold seinen Lebensbericht verfassen. Harry Wind ist ein Geschichtenerzähler, spätestens seit er als kleiner Junge gelernt hat, das gut erzählte Lügen lieber geglaubt werden als die langweilige, weil erwartete, Wahrheit. Und aus diesen «Windgeschichten» schlägt er Kapital, nicht mal wenig. Er wohnt in der Zürcher «Eierbrecht», wo Nachbar Heniger in den vergangenen Jahren drei Renditehäuser gebaut hat. Die nach Harry Winds Meinung überzogene Miete von 720 Franken pro Monat lässt schon erahnen, dass die Geschichte nicht mehr ganz neu ist. In der Tat hat der Schweizer Schriftsteller Walter Matthias Diggelmann den Roman 1962 geschrieben. Die Geschichte von Harry Wind und seinem Verhör ist dennoch eine Zeitlose: Der Protagonist ist ein einigermassen skrupelloser, intelligenter, zynischer Typ, der heute sozusagen zum Standardinventar der Teppichetagen gehört. Das Grundthema des Romans, die Fragen nach der Wahrheit im öffentlichen Diskurs, aber auch in der eigenen Lebensrealität – hat nichts von seiner Gültigkeit verloren.
Bevor er das «Büro Harry Wind» in Zürich aufbaut, verkauft er sehr erfolgreich Gartenzwerge. Und zwar in den USA, kurz nach dem zweiten Weltkrieg. In der Bar «La Vie en Rose» in Grennick Village erzählt er Journalisten erstmals von der Besessenheit, mit der Frau und Herr Schweizer angeblich Gartenzwerge hegten und pflegten. «Es ist ausgeschlossen, dass wir unsere Gartenzwerge missachten. Stellten wir sie auf den Estrich zum Beispiel, hätten wir schlaflose Nächte. Die Gartenzwerge würden umhergehen, ohne Unterlass umhergehen, und sperrten wir sie in die Keller, wie die Geranien zwischen Herbst und Frühling, würden sie an den Mauern kratzen und nagen, Tag und Nacht, und sie würden anfangen zu singen mit ihren röhrenden Stimmen, und schlössen wir sie ein in die Safes unserer Bankhäuser, dann würden sie sich aufblasen, wie Frösche aufblasen und die Safes sprengen! Gartenzwerge wollen geliebt sein, meine Herren.’ An das eine hatte ich nicht gedacht: Dass sie meine Geschichte über die Gartenzwerge auch wirklich drucken würden.»
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Die Geschichte wird gedruckt, Harry Wind beginnt, Gartenzwerge in die USA zu importieren und wird damit reich, so reich, dass er «dem Schrotthändler eine beträchtliche Anzahlung an meine hundert Flugzeuge leisten konnte.» Später gründet er in Zürich eben jenes Büro, von wo aus er militärische und politische Meinungsmache betreibt. Auch wenn er das selbst so nicht sagt: «Eine Reklameagentur? Ein ziviles Generalstabsbüro für politische Aktionen? Dann sagen sie, ich sei ein Meinungsschieber. Und offen gestanden, es fiele mir sehr schwer, wenn ich sagen müsste, was ich wirklich bin und treibe. Von mir aus gesehen: Ich versuche.»
Nun sitzt Harry Wind also in Untersuchungshaft, weil er als Major und Generalsekretär der schweizerischen Wehrmachtgesellschaft Geheimdokumente an die Sowjetunion weitergereicht haben soll.
Ob er das wirklich getan hat und ob er aus der Haft entlassen werden wird? Diese Frage beantwortet sich (fast) von selbst beim Lesen des Romans 😜
Das Verhör des Harry Wind von Walter Matthias Diggelmann. Berechtigte Lizenzausgabe für den Buchclub Ex Libris Zürich. Benziger Verlag 1962. Ein PDF ist hier verfügbar: PDFslide.net
Mehr von Walter Matthias Diggelmann? Hörspiel «Wenn Träume wahr werden» von 1975, verfügbar bei SRF.
Mehr zu Propaganda, PR und politischer Kommunikation? Politische Kommunikation, internationale PR, moderne Propaganda, «creating of consent»? Stories of Conflict von Arte hat da mal was zusammengestellt.
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LiteraTour d‘Horizon von Mensch Meyer
«LiteraTour d‘Horizon»: Was ist das? Tour d‘Horizon bedeutet so viel wie «Überblick, Blickfeld», und die Literatour ist eine Wortschöpfung aus der Literatur und – eben – der Tour.
In loser Folge erscheinen in der LiteraTour d‘Horizon Buchbesprechungen, meist von Wiederentdeckungen, hin und wieder auch von Neuerscheinungen und -entdeckungen. Dabei geht es mir nicht darum, brillante Verrisse zu schreiben, sondern das, woran ich Gefallen finde, zu erzählen. Für die Besprechung der Werke werde ich nicht bezahlt und auch sonst in keiner Weise unterstützt. Die LiteraTour d‘Horizon ist vielmehr ein Liebhaberprojekt und der Versuch, schöne Werke aus den Bücherkisten zu holen und zugänglich zu machen.
Lese- und Besprechungstipps nehme ich allerdings gerne entgegen. Wer mag, darf mir auch Leseexemplare schicken, wobei ich mir ausdrücklich vorbehalte, von einer Besprechung abzusehen.
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akademanie · 3 years
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LiteraTour d‘Horizon | Was ist das?
«LiteraTour d‘Horizon»: Was ist das? Tour d‘Horizon bedeutet so viel wie «Überblick, Blickfeld», und die Literatour ist eine Wortschöpfung aus der Literatur und – eben – der Tour.
In loser Folge erscheinen in der LiteraTour d‘Horizon Buchbesprechungen, meist von Wiederentdeckungen, hin und wieder auch von Neuerscheinungen und -entdeckungen. Dabei geht es mir nicht darum, brillante Verrisse zu schreiben, sondern das, woran ich Gefallen finde, zu erzählen. Für die Besprechung der Werke werde ich nicht bezahlt und auch sonst in keiner Weise unterstützt. Die LiteraTour d‘Horizon ist vielmehr ein Liebhaberprojekt und der Versuch, schöne Werke aus den Bücherkisten zu holen und zugänglich zu machen.
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Lese- und Besprechungstipps nehme ich gerne entgegen. Wer mag, darf mir auch Leseexemplare schicken, wobei ich mir ausdrücklich vorbehalte, von einer Besprechung abzusehen.
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akademanie · 6 years
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Bemerkenswerte Sätze
«Geschichten haben nämlich den Vorteil, dass sie nicht kaputtgehen oder aus der Mode kommen.»
Aus: Der Adventskalender – 24 Tage im Weihnachtsland, Die drei Fragezeichen Kids, Kosmos, 2016
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Was sind schon Nüssli und Schöggeli im Adventskalender, wenn man auch Geschichten haben kann?
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akademanie · 6 years
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Zwei alte Frauen
In der kalten Jahreszeit erforderte das Jagen mehr Kraft als gewöhnlich. Deshalb bekamen die Jäger zuerst zu essen, denn ihr Geschick war es, von dem das Leben des Volkes abhing. Doch da so viele Mäuler zu stopfen waren, war der Vorrat an Nahrung sehr schnell erschöpft. […] In diesem Nomadenverbund lebten auch zwei alte Frauen, um die sich das Volk jahrelang gekümmert hatte. […] An diesem Tag lag etwas Schwereres als nur die Kälte in der Luft, während das Volk um die wenigen flackernden Feuer versammelt war und dem Häuptling zuhörte. […] Dann machte er plötzlich eine Ankündigung: «Wir werden Alten zurücklassen müssen.»
Zwei alte Frauen von Velma Wallis ist eine Sage vom Volk der Gwich‘in, einem indigenen Volk am Polarkreis in Alaska. Und es ist eine Legende, die von Verrat und Tapferkeit erzählt, eine Legende, die heute nichts an Aktualität verloren hat, ganz im Gegenteil: Sie erzählt vom Zusammenhalt in schwierigen Zeiten und Kräften, die nur gemeinsam mobilisiert werden können.
Velma Wallis hat die Geschichte aufgeschrieben, die ihre Mutter ihr in der Sprache der Gwich‘in erzählt hat. Es geht um die beiden alten Frauen Sa‘ und Ch‘idzigyaak, die während eines besonders harten Winters von ihrem Stamm zurückgelassen werden. Die Alten sind in Zeiten der Hungersnot nichts weiter als eine Bürde, die es zusätzlich zu den jungen, gesunden Menschen zu ernähren gilt. Die Legende ist schon viele hundert Jahre alt, aber sie ist heute so wichtig und richtig wie einst: Es geht um Respekt, um Würde und darum, dass eine Gemeinschaft nur dann funktioniert, wenn auch die Schwächsten gestärkt werden.
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Die deutsche Übersetzung von Christel Dormagen ist lebendig, kurzweilig und berührend. Die bittere, unausweichliche Kälte wird spürbar in Sätzen wie: «Hin und wieder war ein Stück blauer Himmel zu sehen, doch die meiste Zeit nahmen die Frauen nur ihren eigenen gefrorenen Atem wahr, der sich in dichten Wirbeln vor ihren Augen sammelte.» In anderen Szenen spürt man den Schmerz der Frauen, aber auch die Kraft, den Lebensmut, der manchmal zu brechen droht, aber am Ende doch allen Widrigkeiten trotzt: «‹Wir werden ihnen beweisen, dass sie beide unrecht haben! Das Volk. Und der Tod!› Sie schüttelte den Kopf und wies in die Luft. ‹Sicher, er wartet auf uns, dieser Tod. Bereit, in dem Augenblick nach uns zu greifen, da wir unsere schwachen Stellen zeigen. Ich fürchte diese Art Tod mehr als alles Leiden, das wir, du und ich, durchstehen müssen. Wenn wir dennoch sterben, so lass uns handelnd sterben!› […] Und so lächelte sie denn, anstatt Trauer darüber zu empfinden, dass es nichts weiter zu tun und zu sagen gab.» Bezaubernde Bilder von Heinke Both illustrieren die Geschichte eindrücklich und einfühlsam.
Velma Wallis: Zwei alte Frauen – Eine Legende von Verrat und Tapferkeit, 11. Aufl. 1998, Wilhelm Heyne Verlag München.
Velma Wallis (*1960) ist Schriftstellerin. Der Bestseller Zwei alte Frauen wurde 1993 mit dem Western States Book Award ausgezeichnet und ist seit dem Erscheinen in 17 Sprachen übersetzt worden.
Christel Dormagen (*1943) ist Übersetzerin für angelsächsische Literatur und Journalistin.
Heinke Both (*1964) ist Künstlerin, sie werkt und wirkt in Hamburg.
Das Volk der Gwich‘in lebt im Grenzgebiet zwischen Kanada und Alaska und gehört den Athabasken-Stämmen an. Nach der mündlichen Überlieferung lebt das Volk schon seit grauer Vorzeit zwischen Porcupine- und Yukon-River und folgt den Karibus in dieser Gegend. Im Alaska Native Language Archive der Universität von Alaska, Fairbanks, finden sich diverse Übersetzungen von und in die Sprache der Gwich‘in.
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte Sätze
«The boy hit the wall. „I don‘t want to be a knight! I want to be a great sorcerer! I want to slay demons and walk with the gods– “ „D‘you think I want to be a lady?“ his sister asked. „‘Walk slowly, Alanna,‘“ she said primly. „‘Sit still, Alanna. Shoulders back, Alanna.‘ As if that‘s all I can do with myself!“ She paced the floor. „There has to be another way.“»
Aus: Alanna – The First Adventure, Tamora Pierce, Simon Pulse Publishers, 1983
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And – of course – there is another way. Quite another way...
Tamora Pierce hat mit ihrer Welt «Tortall» ein unvergleichliches Universum kreiert und erzählt im Quartett «Song of the Lioness» eine wunderbare Geschichte von Mut, Willen und kleineren und grösseren Tricksereien. Aber seien wir ehrlich: Wenn man sich als rothaariges Mädchen mit violetten Augen acht Jahre lang als Junge ausgeben muss, um Ritter(in) zu werden zu dürfen, da dürfte man schon auch mal tricksen dürfen ;-)
Als Tamora-Pierce-Fan versteht man diese 13 Punkte übrigens sehr gut: «Being in love with crow-dude»
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte erste Sätze
«Ding Dong.»
Aus: Die Känguru-Chroniken, Marc-Uwe Kling, Ullstein, 2012
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Und weiter gehts in herrlichem Tempo:
«Es klingelt. Ich gehe zur Tür, öffne und stehe einem Känguru gegenüber. Ich blinzle, kucke hinter mich, schaue die Treppe runter, dann die Treppe rauf. Kucke geradeaus. Das Känguru ist immer noch da.»
Marc-Uwe Kling schreibt fürs Hören. Wolf Schneider hätte (oder hat?) seine Freude dran, denn er rät: «Der ideale Text für Hörer wie für Leser ist an die gesprochene Sprache angelehnt, durch Niederschrift diszipliniert und für die Ohren geschrieben. […] Die Basis für alles, was wir schreiben, sei unsere natürliche Rede. Wir sollten dann nur
unsere Sätze zu einem grammatisch korrekten Ende bringen;
von unseren Wörtern die flapsigen wägen, die vulgären tilgen und das treffendste noch suchen;
auf Wiederholungen verzichten (falls sie nicht zur «schönen Redundanz» gehören);
das mutmassliche Übermass an Füllwörtern beseitigen.»
Weiter lesen in: Wolf Schneider, Deutsch für junge Profis, Rowohlt, 2011, S. 135-138
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte Sätze
«Ich las und war ein Schiff auf Reisen.»
Aus: Das Blütenstaubzimmer, Zoë Jenny, btb, 1999
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Wie ein Schiff auf Reisen fühlt sich die Protagonistin, während Sie die von Hand geschriebenen Namen auf Couverts liest: «In den Schulferien arbeitete ich auf der Post und sortierte Briefe. Bei den von Hand geschriebenen Briefen las ich die Namen, und in meinem Kopf tauchten Personen auf, die miteinander zu reden begannen, während ich unsichtbar dabei sass und zuhören konnte, und in diesen Momenten war mir, als ob ich einen geheimen Zugang zu dem Leben fremder Menschen erfunden hätte, die mich nicht kannten, die aber ihrerseits, da ich ihre Namen und ihre Handschrift in meinen Händen hielt, in mir Platz nahmen und wohnten und sich ausbreiteten, als wäre ich das Haus ihrer Geheimnisse.»
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte erste Sätze
«Um sieben Uhr würden sie kommen.»
Aus: Spätholz, Walter Kauer, Rowohlt, 1997
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Der erste Satz ist entscheidend, das wissen wir nicht erst seit Francks Aufmerksamkeitsökonomie und dem Platzen verschiedener Blasen. Walter Kauer ist es in seiner düsteren Erzählung «Spätholz» wunderbar gelungen, die Leser mit dem ersten Satz vor dem raschen Abspringen zu bewahren und spätestens mit dem zweiten und dritten Satz gelingt es ihm, die Leser so richtig festzunageln:
«Sie kommen immer am frühen Morgen, wenn sie etwas Ungutes vorhaben. Im Morgengrauen werden Verurteilte abgeholt.»
Und dann, wenn man schon meint, mit dem Bergbauern Rocco ginge es gleich zu Beginn zu Ende, kommt man in den Genuss von Sätzen wie: «Kein Terzoner Bauer, mit Ausnahme von Rocco Canonica, rührte Pilze auch nur an, geschweige dass er davon gegessen hätte. Pilze galten als Ausgeburten der Hölle, als Wesen, die sich von giftigem Erdreich ernährten, von Abfall und Verwesung.»
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte Sätze
«Aton? Sagtest du tatsächlich Aton?»
Aus: Die Prophezeiung, Ueberreuter, Wolfgang und Heike Hohlbein, 1993
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Eine wahrlich phantastische Geschichte aus dem alten Ägypten. Petach, Schöpfer- und Schutzgott der alten Ägypter, hat genug vom ewigen Leben und will endlich sterben dürfen. Aton aber, dessen «Alter» übrigens nicht zu geizig für das N war, hat etwas, das Petach dafür braucht. Und so findet sich der 15-jährige Aton plötzlich im Land am Nil der Götterwelt gegenüberstehend. Ein kurzweiliges Lesevergnügen.
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte erste Sätze
«Eines Morgens im Spätsommer 1930 entdeckten der Besitzer und mehrere Gäste des Hotels Union in Crestcrego, Texas, zu ihrem Ärger, dass auf der Löschunterlage des Hotelschreibtisches frischgeschriebene Bibelsprüche prangten.»
Aus: Dem Himmel bin ich auserkoren von Thornton Wilder, Übersetzung Herberth E. Herlitschka, Fischer Bücherei KG, 1960, erstmals erschienen mit dem Titel Heaven‘s My Destination.
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Thornton Wilders Geschichte um George Marvin Brush, der in verschiedenen Staaten versucht, Seelen zu retten und ein guter Mensch zu sein, ist ein zauberhaftes Gleichnis über uns Tun und Werken, über unser Sein und Schein, über unser Menschsein. Die Lektüre lohnt sich!
Übrigens: Der Spiegel hat sich 1948 mit Thornton Wilder unterhalten: Das Feuer darf nicht verlöschen.
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte Sätze
«Thomas wusste, dass dies nicht überall so war.
‹Aber glaube mir, draussen auf dem Land und in den Städten, sogar in anderen Klöstern, geht es bei der Fastenzeit nicht so ruhig zu wie bei uns. Der Erzbischof und Kurfürst von Trier hat erst kürzlich verlautbaren lassen: ›Ist ein Priester so betrunken, dass er die Psalmen nur noch lallt, soll er zwölf Tage von Brot und Wasser leben. Ist ein Mönch so voll, dass er speit, soll er 30 Tage Busse tun. Ist ein Bischof so besoffen, dass er in die Hostie kotzt, muss er 90 Tage büssen. Dieser Spruch hat schnell die Runde durch das ganze Reich gemacht und ist etwas dran!›»
Aus: Der Bierzauberer von Günther Thömmes, Gmeiner Original, 2008.
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«Thomas war auch hier nicht um eine Antwort verlegen: ‹Eine der ältesten Regeln unseres Klosterlebens ist ›liquida non frangunt ieuneum – Flüssiges bricht das Fasten nicht.‹ Das hat uns Brauer immer beliebt gemacht.› Und gefastet wurde viel im Kloster.»
«‹Ein böses Weib, ein saures Bier, behüt‘ der Himmel uns dafür.› Das hängte Niklas ins Sudhaus seiner Brauerei.»
Der «Bierzauberer» Günther Thömmes liefert mit seinem gleichnamigen Roman eine kurzweilig-informative Geschichte zur Entstehung des Bieres und der Braukultur. Er lässt den jungen Niklas das Brauen erlernen und vor allem perfektionieren, und zwar auf allen Ebenen.
Mehr zu Günther Thömmes auch bei den «Hopfenhelden»: http://www.hopfenhelden.de/bierzauberei/
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akademanie · 7 years
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Bemerkenswerte Sätze
«Was für ein weites Feld ist da schon der Alltag. Und wenn darob auch Unglück entsteht, entscheidend ist nur, ob die Mehrheit an der Aufrechterhaltung der Waschordnung beteiligt ist oder nicht – zumal keiner der Unglücklichen behaupten kann, er sei nicht zu seinem Waschküchenschlüssel gekommen.»
Aus der Erzählung ‹Waschküchenschlüssel› von Hugo Lötscher, Diogenes, 1998, erstmals erschienen 1983.
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Die Kurzgeschichtensammlung von Hugo Lötscher im ‹Waschküchenschlüssel› ist ein herzlich-humoristischer Blick auf die Eigenheiten von Herrn und Frau Schweizer, der irgendwie nie an Aktualität verliert. Das wiederum dürfte vor allem an dem einzigartigen Herrn Schweizer liegen, der die Erzählungen aufgeschrieben hat: Hugo Lötscher.
Sein Scharfsinn, sein Sprachwitz und sein Feingefühl sind (und bleiben wohl) unerreicht und bereiten beim Lesen und Denken vor allem Vergnügen. Besonders an Herz gelegt sei in diesen bewegten Zeiten die Erzählung «Helvetische Flurbereinigung».
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